Kapitel 59

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Nachdem Juli und ich unseren Kaffee getrunken hatten, beschloss ich, dass wir in meinem Lieblingscafé frühstücken würden. Zumal ich nichts im Kühlschrank hatte und die Atmosphäre zwischen uns beiden im Café weitaus weniger angespannt wäre als in meiner Wohnung.
Juli hatte ihren Appetit aus unserer Kindheit nicht abgelegt. Während ich mir ein Croissant und einen zweiten Kaffee bestellte, entschied sie sich für Rührei mit Speck und Toast.
„Also, Terra", meinte Juli zwischen zwei Bissen und funkelte mich freudig an. Ich konnte es nicht fassen, dass sie hier war. Dass ich mit meiner kleinen Schwester, die ich seit mehr als fünf Jahren nicht gesehen hatte, in einem Café saß, als wäre es das Normalste der Welt.
„Was willst du wissen, Juli?", fragte ich grinsend. Es war seltsam, dass sie mich bei meinem alten Namen nannte. Ich hatte mich schon so eine meinen neuen Namen gewöhnt, dass sich Terra wie ein fremdes Wort anhörte.
„Warum bist du weggegangen?" Ich sah aus dem Fenster. Da war er wieder. Dieser anklagende Ton, den ich ihr nicht verübeln konnte. Dennoch schüttelte ich den Kopf.
„Diese Frage werde ich dir nicht beantworten." Mein Ton war hart, ließ Juli in ihren Stuhl fallen, aber das war mir egal.
„Sind Mom und Dad schuld?", hakte sie weiter nach. Heftig schüttelte ich den Kopf.
„Frag' etwas anderes, Juli." Meine Fingerknöchel stachen schon weiß hervor, so fest umschloss ich den heißen Kaffeebecher. Aber der Schmerz war das Einzige, was mich von den Tränen fern hielt.
Juli seufzte missmutig. Ihre Gabel quietschte über den Teller, als sie den Speck umherschob. „Was machst du in Los Angeles?"
Ein Schmunzeln huschte über mein Gesicht. „Ich wohne hier. Und arbeite auch in L.A." Juli schob sich eine Portion Rührei in den Mund. „Immer noch bei der Polizei so wie in Cleveland?"
Ich wiegte den Kopf hin und her. „So ungefähr", erwiderte ich. Vom S.W.A.T. würde ich ein anderes Mal erzählen. Vielleicht konnte ich ihr auch noch vor ihrer Abreise das LAPD zeigen. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch noch im selben Moment. Mein altes Leben durfte niemals auf mein neues treffen. Würde Juli mich vor den Kollegen Terra nennen, dann würde ich in sehr große Erklärungsnot kommen.
„Was ist mit Brent?" Ich wunderte mich, dass die Tasse zwischen meinen Händen nicht zersprang. Unbehaglich fuhr ich mir über den Nacken und hoffte, dass Juli es nicht bemerkte, wie sehr mich diese Frage traf. „Was sollt mit ihm sein?" Ich versuchte, ihren scannenden Blick ausdruckslos zu erwidern.
„Seid ihr noch zusammen?", wollte sie wissen. Beinahe hätte ich laut aufgelacht, schluckte das trostlose Geräusch dann jedoch hinunter.
„Nein", antwortete ich. „Sind wir nicht."
„Ich mochte ihn sowieso nie", entgegnete Juli mit einem Schulterzucken und stopfte sich den Rest ihres Toasts in den Mund. Wo das ganze Essen hinging, das sie in ihren zierlichen Körper stopfte, war mir ein Rätsel.
Ich lachte kurz. „Gut zu wissen." Brent schien also kein weiteres Gesprächsthema für Juli zu sein. Wenigstens etwas.
„Hast du einen neuen Freund?" Juli betrachtete mich neugierig, während sie an ihrem Latte nippte. Sie war so erwachsen geworden. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, trank sie noch Kakao aus ihrer Elefantentasse und jetzt trank sie Kaffee. Unglaublich.
Hitze stieg in meine Wangen, als ich ihre Frage verstand. „Nein", krächzte ich und nahm einen Schluck aus meinem Becher. Juli legte mit einem schelmischen Grinsen ihr Besteck hin. Sie schien zu wissen, dass ich nur die halbe Wahrheit gesagt hatte.„Wer ist er?", fragte sie. „Sieht er gut aus? Stellst du ihn mir noch vor?" Dass es kein er war, dem ich vor Wochen mein Herz geschenkt hatte, wusste sie anscheinend nicht. Das brauchte sie aber auch nicht mehr, denn die Sache war so gut wie erledigt und keiner weiteren Erklärung mehr wert.
„Was ist mit dir?", stellte ich die Gegenfrage. „Hast du einen Freund? Oder eine Freundin?" Juli überlegte kurz - wahrscheinlich, ob sie noch weiter nachfragen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Sie schob ihren leeren Teller von sich und lehnte sich gelassen zurück.
„Ja", erwiderte sie mit einem stolzen Lächeln. „Er heißt Liam. Er studiert an derselben Uni wie ich. In Cleveland."
„Was studiert ihr?", warf ich fragend ein.
„Liam studiert Jura. Und ich Medizin. Im ersten Semester." Ich richtete mich lächeln auf und drückte kurz ihre Hand, die auf dem Tisch lag. „Das ist großartig, Juli. Medizin? Das ist wirklich der Hammer. Ich bin stolz auf dich." Sie warf mir ein unsicheres Lächeln zu.
„Was ist mit Theo? Wie geht es ihm? Liest er immer noch die ganzen Comics wie früher?" Juli schüttelte den Kopf. „Nein, schon lange nicht mehr. Er studiert I.T.-Wissenschaften. Auch in Cleveland. Er ist wirklich begabt. Genau wie Jonah. Sein Freund. Sie sind wirklich süß zusammen."
Ich freute mich. Das tat ich wirklich. Ich freute mich, dass die beiden ihr Leben in den letzten Jahren so gut gemeistert haben und glücklich waren. „Mom und Dad haben tatsächlich echt gelassen reagiert", fuhr Juli weiter fort. „Wegen Theo, meine ich. Na ja, so gelassen wie Dad eben reagieren kann." Ich lachte. Unser Dad war schon immer etwas eigen gewesen, wenn es um die Partner seiner Kinder ging. Am liebsten hätte er sie bestimmt einmal gefilzt und einem Test unterzogen, ob sie auch geeignet für unsere Familie waren. Bei Brent wäre es sicherlich von Vorteil gewesen. Bevor meine Gedanken wieder auf Abwegen kommen konnten, erhob ich mich. Die Sonne strahlte so schön durch die großen Fenster und erwärmte den Raum, dass es das perfekte Wetter war, um einen Spaziergang durch den Park zu machen.
Im Park sprachen wir kein Wort miteinander. Dabei hingen noch viele Dinge in der Luft, die wir nicht geklärt hatten. Ich konnte spüren, dass Juli etwas auf dem Herzen lag, aber ich wusste auch, dass ich ihr das, was sie wollte, nicht geben konnte. Ich hatte meine Familie enttäuscht. Sie im Stich gelassen. Nur an mich gedacht. Es gab keinen Tag, an dem diese Gefühle nicht an mir nagten und mich nachts heimsuchten. Doch ich war der Überzeugung, dass es das Beste für alle gewesen war. Davon ging ich immer noch aus. Nur machte Julis Anwesenheit und das Wissen, dass ich halbe Leben meiner jüngeren Geschwister verpasst hatte, es mir ziemlich schwer, nicht sofort meine Taschen zu packen und zurück nach Hause zu fliegen.
Die nächsten Tage vergingen unfassbar schnell. Die Zeit rann durch meine Finger, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich zeigte Juli die Stadt, wir gingen sogar shoppen und verbrachten einen Nachmittag am Strand, auch wenn die Temperaturen viel zu kalt zum Baden waren. Ich genoss die Zeit so gut ich konnte. Es war erstaunlich, dass wir uns so gut verstanden, obwohl wir uns so viele Jahre nicht gesehen hatten.
Ich kam gerade aus dem Bad, als ich beinahe über einen Karton stolperte, der im Flur lag. „Was machst du da, Juli?" Sie saß auf dem Boden im Wohnzimmer, mit dem Rücken zu mir. Neben ihr stand ihr geöffneter Rucksack und sie hatte unzählige Fotos vor sich ausgebreitet. Ich stellte mich neben sie und überflog die Bilder.
„Erinnerst du dich daran?" Juli reichte mir eines der Fotos. Es zeigte Theo und uns beide. Im Hintergrund war eine Berglandschaft, die von der untergehenden Sonne in ein romantisches Licht getaucht wurde. Es war eines der letzten Bilder, die von uns drein existierten.
„Ja, sicher", antwortete ich. Mit einem sehnsüchtigen Gefühl fuhr ich unsere Konturen nach.
Juli sah zu mir auf. Tränen schimmerten in ihren hellbraunen Augen, die in der Abendsonne wie Bernsteine aussahen. „Warum willst du nicht, dass es wieder so ist?" Sie konnte nicht ahnen, wie sehr ich es wollte, aber es ging nicht. Das würde nicht funktionieren. Brent würde das nicht zulassen. Er wartete sicher nur auf den einen Tag, an dem ich nach Cleveland zurückkehren würde. Damit er mich wieder mit all seiner Kraft an sich reißen konnte. Ich wollte das nicht. Ich vermisste meine Familie, aber ich vermisste sie nicht genug, um in mein altes Leben zurückzukehren und ich vermisste vor allem Brent nicht.
Ich reichte Juli das Bild, das sie mit zitternder Hand entgegennahm. „Das ist die Vergangenheit, Juli. Das bin ich nicht mehr. Ich bin jetzt jemand anderes." Das stimmte. Ich hatte nicht nur eine neue Identität, sondern auch endlich zu mir selbst gefunden. Das würde mir niemand nehmen. Und wie es aussah, kam meine Familie auch ohne mich zurecht. Immerhin war aus Juli eine wunderschöne, unabhängige Frau geworden und Theos Leben schien ebenfalls zu laufen.
„Aber die Vergangenheit ist doch ein Teil von dir, Terra", widersprach sie und rappelte sich auf. Ich kämpfte die Tränen zurück. „Ich weiß nicht, was in Cleveland passiert ist. Ich weiß nicht, was so Schlimmes passiert ist, dass du weggelaufen bist, aber schlimme Dinge passieren nun mal. Aber du kannst nicht deine gesamte Vergangenheit hinter dir lassen. Du verlierst dann auch all die guten Dinge. Du verlierst Mom und Dad. Und Theo. Und mich."
Eine einsame Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. Schnell wischte ich sie mit meinem Handrücken weg. Es tat weh, was Juli sagte. Es tat weh, dass sie mir sagte, ich hätte alle im Stich gelassen. Aber am meisten tat es weh, dass sie recht hatte.
„Juli, ich kann nicht", murmelte ich mit belegter Stimme. „Lass gut sein, okay? Räum die Bilder weg. Im Kühlschrank ist noch Pizza, die kannst du dir warm machen. Ich muss jetzt los."
Juli sah traurig und gleichermaßen wütend aus, als sie die Fotos einsammelte und wieder in den Karton steckte. Ich verzog mich in mein Schlafzimmer. Für einige Minuten gab ich meinen Tränen nach, weinte bitterlich, aber lautlos. Es zerriss mir das Herz, dass ich Juli abblitzen ließ, aber es war der einzige Weg. Der einzig richtige Weg. Und solange Brent aus Julis Leben blieb, aus dem Leben aller, war es mir wert, dass Juli mir gegenüber nichts als Hass empfand. Irgendwann würde er verblassen - spätestens, wenn ich nur noch eine alte Erinnerung war.
Ich schnappte mir eine einfache Jeans und ein graues T-Shirt aus dem Schrank. Streets und Lucas Hausparty konnte ich nicht sausen lassen, denn dann würde es nicht lange dauern, bis einer aus dem Team auf der Matte stand. Dass das bis jetzt nicht der Fall gewesen war, war wunderlich genug.
Bevor ich die Wohnung verließ, gab ich Juli meine Nummer, damit sie mich erreichen konnte, falls etwas sein sollte.
Ich öffnete die Wohnungstür. „Zögere nicht, mich anzurufen, wenn etwas sein sollte. Ich bin in zwanzig Minuten hier." Juli stand im Flur und rollte mit den Augen. „Ich bin keine zwölf mehr, Terra. Wo willst du überhaupt hin?"
„Zu meinen Kollegen. Eine kleine Feier. Es wird nicht lange dauern." Ich schulterte meine Tasche.
„Ist dein Freund auch da?" Ihr Grinsen konnte ich hören, ohne, dass ich mich umdrehen musste. Ich ersparte mir eine Antwort und flüchtete die Treppe herunter.
Meine Nervosität stieg, als ich an die Tür klopfte. Keine drei Sekunden später öffnete Luca mir die Tür und zog mich im selben Atemzug in eine feste Umarmung, dich gefolgt von Street, der mich beinahe erdrückte.
„Gwen", meinte Street. „Wir dachten, es wäre etwas passiert." Ich entzog mich seinen starken Armen, damit ich wieder atmen konnte. „Wo warst du die letzten Tage?", fragte er weiter und schloss die Tür hinter mir. Tan war der Nächste der mich überschwellig begrüßte.
„Ich musste mich nur um etwas kümmern. Ich hatte keine Zeit, um auf mein Handy zu sehen. Es ist aber alles in Ordnung." Die anderen schienen sich mit meiner Ausrede zufriedenzugeben, oder sie besaßen lediglich die Höflichkeit, nicht weiter nachzufragen.
Die Einzige, die mich nicht mit Fragen löcherte, war Chris. Sie saß an der Küchentheke und bedachte mich mit einem kalten Blick, der eisige Spuren auf meinen nackten Armen hinterließ. Sie sah mich nur an, aber das reichte, dass mir der Kopf schwirrte.
Ich ließ mich von Street in Richtung der Couch ziehen. Auch, wenn ich Football hasste, war ich dankbar für die Ablenkung, die im Fernseher lief. Es würde ein langer Abend werden, wenn das die einzige Unterhaltung sein würde.
Glücklicherweise holte Street im Laufe des Abends ein Kartenspiel, sodass ich nicht stundenlang Männern dabei zuschauen musste, wie sie einem Ball hinterherrannten. Hinter diesen Sinn würde ich wohl nie kommen.
Nach der fünften Runde Karten und der dritten Runde Bier, setzte ich das nächste Spiel aus, denn das letzte Getränk drückte gewaltig auf meine Blase.
Im grellen Licht des Bades sah ich fürchterlich aus. Meine Augen waren rot, meine Augenringe so dunkel wie noch nie und meine Wangenknochen stachen ungesund hervor. Ich sah beinahe so aus wie vor sechs Jahren. Eilig spritzte ich mir einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht.
Als ich das Bad wieder verließ, warf ich einen Blick auf mein Handy. Keine Nachricht von Juli. Dann war sicherlich alles gut. Sie saß bestimmt im Wohnzimmer und schaute Netflix oder telefonierte mit Liam, wie sie es die letzten Abende auch getan hat.
Ich steckte mein Telefon gerade zurück, als mir jemand im Flur entgegenkam. Ich wurde unsanft zur Seite gezogen. Die gegenüberliegende Tür wurde geöffnet und im nächsten Moment stieß ich mit meiner Hüfte gegen etwas Hartes.
„Hey", protestierte ich. Der Raum war stockdunkel. Es roch nach Waschmittel. Das einzige Licht, das vom Flur kam, verschwand, als Chris die Tür hinter sich schloss.

everything i ever wantedWhere stories live. Discover now