Kapitel 54

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Die Tage vergingen rasend. Auch, wenn ich es hasste, auf der Strafbank zu sitzen und meinem Team bei ihren Einsätzen nur zusehen durfte, kam der Freitagabend für meinen Geschmack etwas zu schnell.
Ich ertappte mich dabei, wie ich am Abend vor dem geplanten ersten Treffen mit Anthony meinen Feierabend so sehr herauszögerte wie es nur ging. Ich wollte schlichtweg einfach nicht nach Hause fahren, damit ich nicht einschlief und es nicht Freitag wurde. Fürchtete ich mich? Nein, das wäre etwas zu gelinde ausgedrückt. Ich hatte eine Riesenangst - das traf es eher.
Es war schon spät, als ich das Licht in der Waffenkammer ausschaltete. Dieser Ort war in den letzten Tagen für mich zu einer Art Unterschlupf geworden. Dort ging mir wenigstens niemand auf die Nerven und ich konnte in Ruhe meinen Gedanken nachhängen, auch wenn das nicht immer gut war. Die Sache mit Juli - beziehungsweise dem Mädchen, das wie Juli aussah - hatte ich vollkommen in den hintersten Teil meines Kopfes verdrängt. Es gab zu viele andere Sachen, die meine Nerven spannten und so lange meine Schwester nicht plötzlich im Departement auf der Matte stand, sollte ich mir darum keine Sorgen machen.
Die Flure waren wie leer gefegt. Es war beinahe gespenstisch. Das einzige Geräusch war lediglich das Rauschen der Maschinen, mit denen die Reinigungskräfte den Boden säuberten.
Draußen vor dem LAPD schlug mir die Luft eisig entgegen, sodass ich den Kragen meiner Jacke höher ziehen musste, bis er mir fast an die Nasenspitze reichte. Der Parkplatz war so gut wie leer.
Ich war schon an meiner Wagentür angelangt, als mir mit einem Mal eine viel bessere Idee einfiel, als nach Hause zu fahren. Schnell schmiss ich meine Tasche auf den Beifahrersitz und ging wieder zurück zum Gebäude. Doch anstatt durch die Glastüren zu gehen, schlug ich einen anderen Weg ein. Die schmale Tür an der Seite war genauso unscheinbar wie beim ersten Mal. Quietschend öffnete sie sich und mich empfing nur die staubige und abgestandene Luft. Eilig schlüpfte ich in die Dunkelheit, ließ sie für ein paar Atemzüge auf mich wirken und erklomm dann die Steintreppe.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich an das letzte Mal dachte, als ich hier war. Das war mit Chris gewesen. Und es hatte mit einem Kuss geendet. Wie auf Kommando kribbelten meine Lippen. Sachte fuhr ich mir mit den Fingerspitzen über meinen Mund und verfluchte mich in der nächsten Sekunde selber. Wie verräterisch mein Körper doch war.
Allein die bunten Lichter der Stadt lenkte mich von meinen Träumereien ab. Und der Wind, der auf dem Dach doppelt so stark über mein Gesicht pfiff und brennende Spuren hinterließ.
Ich setzte mich an den Rand des Daches und ließ meine Beine über den Abgrund baumeln. Auch, wenn mir in diesem Moment sämtliche Gliedmaßen abfroren, war ich froh, hierhergekommen zu sein. Die Windzüge bliesen mir meine Haare aus dem Gesicht und kitzelte meine Nasenspitze.
Ich habe versucht, in den letzten Tagen nicht an Chris zu denken. Und nicht an Julia, die wahrscheinlich nur reine Einbildung gewesen war. Letzteres war mir definitiv besser gelungen. Chris hingegen ... sie spukte zu jeder Tages- und Nachtzeit in meinem Kopf herum. Egal, was ich machte oder woran ich dachte. Sie schien immer da zu sein. Sie hatte sie wie eine Klette in meinem Kopf eingenistet und verfolgte mich, ließ nicht mehr ab von mir.
Das alles war frustrierend und nervenraubend. Chris schien wie immer kein einziges Problem mit der Situation zu haben - als hätte sie das alles von vornherein nicht geschert. Was sie tat oder was es mit mir machte. Allerdings bekam ich sie, durch die Strafbank und die vielen Außeneinsätze, auch nur wenig zu Gesicht. Ich sah Chris höchstens zur Morgenbesprechung und Abends zum Feierabend, aber da rauschte sie auch so schnell aus dem Departement wie sie konnte. Sicherlich, um zu ihrer dunkelhaarigen Schönheit zu fahren. Ich wollte es nicht zugeben, aber seitdem ich die beiden vor dem Café gesehen hatte, nagte ein Gefühl der Eifersucht an mir. Ich wollte es nicht, ich wollte es verdrängen und abschalten, aber es funktionierte nicht. Dabei hatte ich keinen Grund, mich so zu fühlen und erst recht keine Berechtigung dazu.
Plötzlich ging die Tür hinter mir auf und ein helles Licht wurde auf den Kiesboden gestrahlt. Vor Schreck und vor Wut krallte sich meine eiskalten Hände in den noch kälteren Beton. Das konnte nicht wahr sein. Kommentarlos drehte ich mich wieder um.
Schritte knirschten auf den kleinen Kieselsteinen und im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Chris schräg hinter mir stehen blieb. Wenigstens ließ sie drei Meter Abstand zwischen uns. Oder hatte sie Angst, dass ich sie vom Dach stoßen würde?
„Nicht mal ein Hallo", fragte sie belustigt. Ich schnaubte. Sie vom Dach zuschubsen wurde gerade zu einer richtigen Option.
„Was willst du hier?", fragte ich genervt. Sie entschied sich, dass ich sie wohl doch nicht vom Dach stoßen würde, und setzte sich neben mich. Chris' Geruch stieg mir keine Sekunde später in die Nase. Kurz darauf spürte ich die Wärme, die sie ausstrahlte. Meine Güte. Es sollte mich nicht interessieren. Sie sollte mich nicht mehr interessieren.
„Schon vergessen, dass ich den Platz entdeckt habe?" Das Grinsen in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Mir selbst war kein bisschen zum Lachen zumute.
Ich winkelte meine Beine an, um aufzustehen. „Ich wollte sowieso gehen", erwiderte ich schnippisch. Chris hielt meinen Arm. Kleine Blitzschläge, die meine Haut kitzelten, fraßen sich von der Stelle, die sie berührte, meinen Arm entlang und beinahe vergaß ich, dass ich sauer auf sie war.
„Gwen, nicht", bat sie. In ihren dunklen Augen schimmerte etwas, das ich nicht recht deuten konnte. „Bitte, bleib." Fieberhaft überlegte ich. Es war das Letzte, was ich wollte - mit Chris auf einem Dach sitzen. Mitten in der Nacht. Alleine. Widerwillig ließ ich mich wieder auf meinem Platz nieder.
Es herrschte für einige Minuten eine Stille zwischen uns, die fast genauso kalt war wie die Nachtluft.
„Ich will nicht, dass du mich für immer so anschweigst, Gwen." Ich spürte Chris' Augen auf mir. Ich konnte sie nicht ansehen. Sonst wären meine anbahnenden Tränen nicht mehr aufzuhalten gewesen. „Ich schweige dich nicht an", erwiderte ich, bemüht um eine feste Stimme. „Ich rede doch mit dir."
Chris atmete hörbar aus. „Du weißt, was ich meine." Natürlich wusste ich das. Ich war nicht auf den Kopf gefallen. Aber ich fragte mich, ob das bei Chris der Fall gewesen war. Erwartete sie nach allem, was passiert war, dass alles in Ordnung zwischen uns war? So naiv konnte sie nicht sein.
In der nächsten Zeit hörte ich nur meinen eigenen schnellen Atem und meinen noch schnelleren Herzschlag. Mein Herzen schien es nicht zu interessieren, dass Chris für mich nicht mehr erreichbar war.
„Es tut mir leid, okay?" Chris' Stimme war hauchzart. Würde ich Tränen in ihren Augen sehen, wenn ich mich zu ihr drehen würde? Ich wusste es nicht, denn ich fixierte meinen Blick verbissen auf den hell erleuchtenden Wolkenkratzer, der mich höhnisch anzugrinsen schien. Ich antwortete ihr nicht, denn nichts war okay. Überhaupt nichts.
„Ich weiß, dass du es nicht verstehst, aber ...", fuhr sie fort. Als ich sie wütend anfunkelte, verstummte sie jedoch augenblicklich.
„Stimmt, Chris", meinte ich wütend. „Ich verstehe es nicht. Ich verstehe rein gar nichts. Und vor allem verstehe ich dich nicht." Sie presste ihre Lippen aufeinander und wandte sich ab.
„Kann es nicht sein, wie vorher?" Freudlos lachte ich auf. Das sollte wohl ein Witz sein. „Wie stellst du dir das vor?", fragte ich. „Sollen wir einfach so tun, als wäre in den letzten Wochen nichts passiert? Ist es das, was du willst? Nicht allen von uns fällt das so leicht."
Mir fällt es auch nicht leicht", sagte Chris. Spöttisch zog ich meine Augenbrauen hoch. „Ach, nicht?" Meine Stimme triefte vor Ironie. „Da sagen deine Dates aber etwas anderes." Ihr Schweigen verriet mir genug. Ich hatte einen Volltreffer gelandet. Leider tat der Volltreffer ziemlich weh.
Meine Augen brannten höllisch, aber nichts würde mich dazu bringen, mir auch noch die letzte Blöße vor Chris zu geben.
„Was soll ich deiner Meinung nach tun?" Ich antwortete nicht sofort. Ich wusste auch, was ich hätte antworten sollen. Auf ihre Frage kannte ich keine Antwort. Ich wusste nur, dass ich wütend war. Wütend und verletzt. Sehnsüchtig nach unserer Nicht-Beziehung. Und, dass sich die Nähe trotz allem gut anfühlte. Das machte mich noch wütender.
„Mich in Ruhe lassen, wäre ein guter Anfang", antwortete ich schließlich und rappelte mich auf, bevor Chris mich wieder um den Verstand bringen und ihre Nähe mich umbringen würde. Diesmal hielt Chris mich nicht auf. Ich wünschte es mir zwar insgeheim, aber es war wohl besser so.

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