Kapitel 60

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Chris knipste das schwache Licht an. Der Raum war wirklich winzig. Hinter mir stand eine Waschmaschine. Daran hatte ich mich also gestoßen. Chris stand keinen Meter von mir entfernt, mit dem Rücken an der Wand.
„Was soll das?", fragte ich und streckte meine Hand nach dem Türgriff aus, doch sie stellte sich mir in den Weg. „Lass den Quatsch, Chris." Langsam wurde ich sauer. Was sollte das? Sie konnte den ganzen Abend über kein Wort mit mir sprechen und nun schleppte sie mich in eine Abstellkammer.
„Wo warst du die letzten Tage wirklich?" Ihre Frage hing schwer in der Luft. Ich zog meine Stirn kraus und schnaubte genervt. „Habe ich doch gesagt. Ich musste mich um etwas kümmern." Ich konnte Chris an der Nasenspitze ansehen, dass sie mir nicht glaubte. Das interessierte mich aber auch nicht. Ich wollte nur aus der Kammer heraus. Nicht nur der enge Raum, sondern auch die Nähe zu Chris raubte mir den Atem. Ich fühlte mich unbehaglich und verschränkte die Arme vor meiner Brust, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Doch das half nicht viel. Wir waren uns viel zu nahe. So nahe, dass mein Herz wieder Purzelbäume schlug und meine Knie weich wurde. Unauffällig stützte ich mich an der Waschmaschine ab.
„Das glaube ich dir nicht." Ich blickte Chris trotzig an. „Das ist nicht mein Problem", erwiderte ich und versuchte erneut, mich an ihr vorbeizudrängeln, aber Chris bewegte sich keinen Zentimeter. „Sie ist deine Schwester, oder?" Anstatt einen weiteren Purzelbaum zu schlagen, setzte mein Herzschlag für eine Sekunde aus. Ich musste nicht einmal in den Spiegel sehen, um festzustellen, dass jegliche Farbe aus meinem Gesicht gewichen war. Chris nickte wissend. „Dachte ich mir. Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen." Meine Bestürzung schlug augenblicklich in Wut um. Drohend hob ich meinen Zeigefinger und hielt ihn Chris direkt vor die Nase. „Wehe, du verrätst es irgendjemandem!" Chris grunzte belustigt und schob meinen Finger nach unten. „Keine Sorge, Gwennie. Hatte ich nicht vor. Dein Geheimnis ist bei mir sicher." Sie sollte mich nicht mehr so nennen. Dazu hatte sie jedes Recht verspielt. Sie sollte mich nicht so nennen, denn es löste Gefühle in mir aus, die ich mir verboten hatte und die ich nicht fühlen sollte.
„War das dann alles?", wollte ich ungeduldig wissen. Ich musste sofort aus diesem Raum verschwinden, bevor die Mauern um mein Herz und meine Sehnsucht wieder einstürzten.
„Ist mit ihr alles in Ordnung? Warum ist sie hier?" Betont gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. „Sie wollte mich eben besuchen. Sie fliegt morgen wieder nach Hause." Chris nickte wieder. „Wenn du oder ihr etwas braucht, kannst du dich jederzeit melden. Das weißt du, ja?" Ich blitzte sie wütend an, auch wenn ich in diesem Moment alles andere als Wut fühlte. Es fiel mir schwer, überhaupt noch wütend zu sein, wenn Chris mich auf diese Art und Weise mit ihren dunklen Augen ansah. Sie machte es mir nicht leicht. „Kein Bedarf", quetschte ich aus mir heraus. Als ich an ihr vorbeigehen wollte, hielt Chris meinen Arm fest. Durch die Enge des Raumes war so wenig Platz, dass sich unsere Oberkörper beinahe aneinanderpressten. „Wie lange bist du noch sauer?" Ihr Atem streifte meine Wange. Mir fehlte die Luft zum Sprechen. Meine Gedanken lösten sich wie von selbst auf. Ich öffnete meinen Mund, aber es kam kein einziger Ton heraus.
„Ich ...", stotterte ich, doch ich war völlig auf Chris' Augen und ihren Mund konzentriert, die im dämmrigen Licht glitzerten.
Chris fährt sich für eine Sekunde mit der Zunge über ihre Lippen. Ich folgte ihrer Bewegung und schluckte hart. Meine Mitte pulsierte. Ich musste dringend verschwinden, aber ich wollte es nicht. In diesem Moment wollte ich nicht anderes, außer sie. Ich wollte hier bleiben, bei Chris. Und ich hasste mich dafür.
„Ich muss noch auf deine Frage antworten." Chris' Stimme war nur noch ein Flüstern. „Welche Frage?", hauchte ich. Es war schwer, Chris in die Augen zu sehen. Ihr Mund war dazu viel zu sehr auf Augenhöhe.
„Ob es etwas ändern würde, wenn es andere Umstände wären." Fragend sah ich auf. In ihren Augen lag eine Mischung aus funkelnder Begierde und dunkler Sehnsucht.
„Und?" Mein Hals war trocken. Mein Puls schoss in die Höhe und das Blut rauschte in meinen Ohren. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Dann nahm Chris mein Gesicht zwischen ihre Hände und zog mich zu sich heran. Zunächst wusste ich nicht, was sie tat, doch keine Sekunde später lehnte ich mich in den Kuss hinein. Das war Antwort genug auf meine Frage.
Stürmisch umfasste ich Chris' Hüften. Es existierte keine Sanftheit in unserer Berührung. Kein Herantasten. Es war ein wilder Sturm aus Gefühlen und Sehnsucht, die wir ohne Worte aussprachen. 
Meine Hände wanderten zu ihrem Hals, damit ich Chris noch näher zu mir ziehen konnte. Auch jetzt würde kein Blatt mehr zwischen uns passen, doch das reichte mir nicht. Ich wollte sie noch näher spüren.
Mit einer leichten Bewegung hob Chris mich auf die Waschmaschine. Wie von selbst schlossen sich meine Beine um ihre Hüften. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, damit unser Kuss nicht unterbrochen wurde.
Chris leises Stöhnen, als ich meine Hände unter ihr T-Shirt fahren ließ, erregten mich nur noch mehr. „Wir sollten aufhören", murmelte ich zwischen zwei Küssen. Chris küsste eine Spur an meinem Hals entlang. Ich fröstelte. „Ja, sollten wir", erwiderte sie, aber hörte nicht auf. Wieder prallten unsere Lippen aufeinander, fochten einen unstillbaren Kampf miteinander.
Mir wurde erst bewusst, was wir taten, als Chris Hände am Verschluss meines BHs fummelten. Augenblicklich fuhr ich zurück und stieß sie von mir. Mit einem Schlag war ich wieder in der Wirklichkeit angelangt. In der Realität, in der Chris mich vor wenigen Wochen abgeschoben hatte, als wäre ich nichts außer ein One-Night-Stand gewesen und dieser Verrat brannte noch in meiner Seele.
Ich sprang von der Waschmaschine und zog mir mein Oberteil über den Kopf. „Fick dich, Chris", zischte ich. Auch wenn ich eigentlich mehr sauer auf mich als auf sie war.
„Gwen." Chris griff nach meinem Arm und sah mich flehend an.
Schnell zog ich ihn weg. „Vergiss es. Ich hoffe, du bist zufrieden." Chris zog irritiert ihre Augenbrauen nach oben. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst." Ich rückte mein Oberteil gerade und fuhr mir durch meine wirren Haare. „Ach, komm. Mal sehen, ob die Neue immer noch so leicht zu haben ist. Mal sehen, ob sie immer noch weich wird." Chris sah mit jedem Satz verwirrter aus. „Das war nicht ..."
„Und ob das so gemeint war", fuhr ich sie an. „Und weißt du was, Chris? Ja, du hast recht. Ich bin dir immer noch verfallen. Und das wird sich auch nicht ändern." Ich umfasste den Türgriff hinter mir. „Aber ich würde es dir sehr hoch anrechnen, wenn du in Zukunft nicht auf meinen Gefühlen herumtrampeln würdest, nur, weil du dir über deine eigenen nicht im Klaren bist. Ich verabscheue deine Spielchen. Verdammt nochmal!" Lautstark schmiss ich die Tür hinter mir zu und zog somit die Aufmerksamkeit der anderen auf mich, die vom Wohnzimmer in meine Richtung sahen. Perplex sahen sie mich an, wagten es aber nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Mit einer leisen Entschuldigung schnappte ich mir meine Jacke und Handtasche vom Tisch. Ich wollte nur noch nach Hause.
Auf der Autofahrt drehte ich die Musik extra laut, damit sie meine Gedanken übertönten. Das half nur bedingt, denn außer Kopfschmerzen und Chris' in meinen Gedanken kam nichts dabei heraus. Ich schämte mich. Ich schämte mich, dass ich wieder schwach geworden war. Ich schämte mich, dass ich mich erneut von Chris ausnutzen ließ, obwohl ich es inzwischen besser wissen sollte. Und dennoch. Immer, wenn Chris in der Nähe war oder vor mir stand, warf ich all meine Moral und Prinzipien über Bord. Ich konnte nicht mehr rational denken. Nichts klappte. Und ich musste mir eingestehen - egal, wie sehr Chris mich verletzen würde, es wäre mir egal. Ich würde sie immer wieder küssen wollen.
Ich war so in meine Gedanken und in mein Selbstmitleid vertieft, dass ich das fremde Auto in der Einfahrt nicht bemerkte. Wahrscheinlich ging ich davon aus, dass es das Auto von dem merkwürdigen Nachbar war.
Ich schloss die Wohnung auf. Ein Flimmern kam aus dem Wohnzimmer. Juli war immer noch wach und saß mit einem Eisbecher auf der Couch, den sie, als sie mich bemerkte, abstellte. Grummelnd schloss ich die Tür hinter mir.
„Da ist aber jemand schlecht gelaunt", meinte Juli. Ich warf ich einen flüchtigen Blick zu. Sie hatte ihr Kinn auf die Rückenlehne der Couch abgelegt und beobachtete mich.
„Nicht jetzt, Juli", brummte ich und schmiss meine Sachen mit mehr Gewalt als nötig auf die Kommode. Ich brauchte dringend etwas zu trinken. Glücklicherweise fand ich im Kühlschrank noch eine angefangene Flasche Wein.
Das erste Glas schüttete ich in einem Zug herunter, ohne auf Julis gleichermaßen überraschten und angeekelten Gesichtsausdruck zu reagieren. Ein bitterer Geschmack legte sich auf meine Zunge und brannte für einen Augenblick in meiner Kehle. Doch der Alkohol half. Zumindest wollte ich auf niemanden mehr einschlagen.
Bevor ich den Wein zurückstellte, goss ich mir ein zweites Glas ein. Das würde ich in Ruhe trinken. Nicht, dass meine kleine Schwester dachte, ich wäre eine Alkoholikerin. 
Juli hatte mir die ganze Zeit unverblümt zugesehen. „Keine gute Feier?", tippte sie. „Nein, keine gute Feier", bestätigte ich und rieb mir erst über die Stirn und massierte dann meine Augenlider.
Nach drei tiefen Atemzügen öffnete ich meine Augen wieder. Ich sollte mich bei Juli dafür entschuldigen, dass ich so angefahren hatte, doch etwas anderes lenkte mich ab.
„Was zum ...?" Ich ging auf die Wand über dem Spülbecken zu. Der rote Fleck war vorhin definitiv noch nicht da gewesen. Doch als ich über ihn wischte, verschwand oder verschmierte er nicht. Er tauchte auf meinem Fingernagel wieder auf und bewegte sich - wenn auch nur minimal.
„Was ist ...?" Julis Satz ging in ihrem eigenen Schreien unter, kurz nachdem die Fensterscheibe der Küche durch Kugeln zerstört wurde. Ohne zu zögern, warf ich mich auf Juli.

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