4. Leben in Scherben

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Scharfer, brennender Schmerz an ihrem linken Handgelenk war das Erste, was durch Yunas benommenes, träges Bewusstsein flackerte. Langsam kam sie wieder zu sich.

Nicht nur die Schnittstellen an ihrer Hand schmerzten, sondern auch ihr Kopf sowohl als auch ihre Schulter- und Rückenregion. Da das Mädchen auf dem kalten Badezimmerboden lag, nahm sie an, dass sie wohl das Bewusstsein verloren hatte, nachdem sie sich willentlich selbst verletzt hatte. Leise fluchend rappelte sie sich auf, dabei entwich ihr ein schmerzerfülltes Zischen. 

"Shit!" Sie fluchte mit zusammengebissenen Zähnen. Sie musste sich um diese Sauerei kümmern, ehe sie das Bad verlassen konnte. Hoffentlich hatten ihr Vater und die beiden Polizisten nichts mitbekommen. Sie wollte ihr Handeln vor  niemandem rechtfertigen müssen, es würde ohnehin niemand verstehen. Es war nun ihr eigenes kleines Geheimnis. 

Der ehemals weiße Fliesenboden war blutbesprenkelt und mit glitzernden, spiegelnden Scherben bedeckt. Seufzend machte sie sich an die Arbeit und sammelte die silbrigen Teilchen ein, um sie dann in den kleinen Mülleimer zu entsorgen. Im Anschluss säuberte sie den Boden mit einem nassen Handtuch. Dabei hatte sie ausreichend Zeit, ihre aufgewühlten, zerstobenen Gedanken etwas zu ordnen. Zumindest bemühte sie sich darum, doch sie konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war. 

Ihre Mutter war gestorben, tot, auf ewig gegangen. Das seltsame Lächeln zuckte wieder auf Yunas Mundwinkeln. Sie hätte niemals gedacht, dass es so sehr schmerzen würde, ihre Mutter zu verlieren. Sie hatte sich bereits so sehr von ihr entfremdet, und doch war dieser Verlust für sie einfach unbegreifbar. Und es gab nicht einmal einen Körper, von dem sie sich verabschieden könnte. Tot, ausgelöscht.

Mit zittrigen Händen spülte Yuna das Handtuch im Waschbecken ab. Dabei brannte das lauwarme Wasser auf ihren Wunden, sie hatte sich noch nicht um sie gekümmert. 

Zum Schluss hängte sie den leeren Rahmen des Spiegels ab und schob ihn hinter die Waschmaschine. 

"Endlich." Ein erleichtertes Seufzen verließ ihre Lippen, als sie schlussendlich fertig mit ihrer Arbeit war. Ihr Blick wanderte zu ihrer verletzten Hand, dann zum Badezimmerschrank, in dem unter anderem auch ein Erste-Hilfe-Set aufbewahrt wurde. Weshalb, hatte Yuna nie verstanden, doch das kümmerte sie im Moment auch nicht. Sie beschaffte sich das Set und öffnete es. Geschickt trug sie etwas Zinksalbe auf und verband ihre Wunden. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich selbst um ihre Verletzungen kümmern musste.

Kurze Zeit später verließ sie den Raum, so lautlos wie möglich, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Der Flur war dunkel und roch nach kaltem Zigarettenrauch. Aus der Küche kamen keine Geräusche mehr, die beiden Beamten hatten die Wohnung bereits verlassen.

Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Im Bad befand sich keine Uhr, daher war es schwer abzuschätzen, wie lange die Ohnmacht angedauert hatte. Sie hatte einmal gehört, dass man nach fünf oder so den Rettungsdienst rufen sollte. Die Erkenntnis schlug sie beinahe um.

Sie hätte sterben können.

Dass ihre Bewusstlosigkeit mehr als nur fünf Minuten gedauert hatte, war mehr oder weniger offensichtlich. Es war niemand dagewesen, der sie hätte retten können. 

Wieder erschien das Grinsen auf ihren Lippen. Hätte es den überhaupt jemandem etwas bedeutet, wenn sie tot wäre?

In ihrem Zimmer angekommen knipste sie das Licht an und schloss die Tür ab, wie immer. Etwas orientierungslos bewegte sie sich auf das Fenster zu und öffnete es langsam, beinahe unwillig. Die Jalousien klemmten leicht, doch schließlich strömte die eiskalte Nachtluft ungehindert in das stickige Zimmer. 

Lethargisch lehnte sich Yuna aus dem Fenster und starrte auf die Straße. Ihr Blick zuckte zu dem Asphalt tief unter ihr. Nass, kalt, schwarz. Würde sie überleben, sollte sie von dieser Höhe hinabstürzen? Yuna schob den Gedanken von sich. 

Es war Herbst, doch das Einzige, was dies belegte, war die nasse Kälte. Keine Bäume zu sehen. Trist erstreckte sich die graue Stadtlandschaft vor Yuna. 

Sie begann unmerklich zu zittern, obwohl es schon Ende September war, trug sie nur eine kurzärmelige schwarze Bluse mit dunklen Cargojeans. Sie war nie darum bemüht gewesen, hübsch auszusehen. Für wen auch?

Draußen begann es zu regnen und Yuna schloss schaudernd das Fenster. Vielleicht sollte sie jetzt besser schlafen gehen...

Doch ihre Gedanken waren viel zu aktiv um jetzt zur Ruhe zu kommen. Mit drei Schritten durchquerte sie den Raum und ließ sich auf den Bürostuhl an ihrem Schreibtisch nieder. Beide Möbelstücke waren chromfarben, sie stammten noch aus der Zeit, in der ihr noch wichtig gewesen war, wie ihr Zimmer aussah. 

Gelangweilt fuhr sie ihren Laptop hoch, sie musste noch einen Englisch-Aufsatz abtippen. Er war ausschlaggebend für ihre Zeugnisnote und morgen war der Abgabetermin. Es sollte eine Kurzgeschichte mit ca. 4.000 Wörtern sein. Für Yuna war das ein Witz, sie sprach Englisch so gut wie Deutsch und über dies war sie eine begabte Autorin. 

Es dauerte nicht lange, bis sie fertig war. Unruhig huschte ihr Blick zu der Zeitangabe unten rechts auf dem Bildschirm.

01:56 Uhr. Rasch lud sie die Datei auf den USB-Stick an ihrem Schlüsselbund und klappte den Bildschirm herunter. Widerwillig stellte sie sich ein paar Wecker auf ihrem Smartphone, um nicht zu verschlafen. Sie seufzte, viel lieber hätte sie geschwänzt, einfach geschlafen bis in den Abend, aber dieser Aufsatz war wirklich wichtig. Obwohl das kaum jemand glaubte, war Yuna sehr zuverlässig, wenn es darauf ankam. Sie sah nur nicht ein, weshalb sie unnötigerweise ihre Zeit mit Unterricht verschwenden sollte, obwohl sie ohnehin alles wusste.

 Bevor sie das Licht ausknipste, löste sie ihre Haare auf. Über den Tag trug Yuna ihre Haare zumeist in einem einfachen Zopf, sie hatte weder Zeit noch Lust für aufwendigeres. In langen, seidigen Wellen fielen ihre dunkelblonden Haare ihren Rücken herab. Manchmal trug das Mädchen die Haare auch offen, doch das war äußerst selten.

Als sie endlich in ihrem Bett lag und die Augen geschlossen hatte, griffen wieder die schwarzen Finger der Albträume nach ihr. 

Wie jede Nacht.

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A/n: Sorry, wieder lange Pause. Ich muss wohl wieder mehr Ordnung in mein strukturloses Leben bringen. Da ich nicht extra Korrektur gelesen habe, können Fehler sowohl in der Logik als auch in der Rechtschreibung sowie der Grammatik durchaus vorkommen. 

See you❤❤❤

Mirror Gaze-Wenn das letzte Licht erlischtWhere stories live. Discover now