1. Kapitel

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„Weglaufen ist etwas für Feiglinge."
Das war es, was mein Herz mir zuflüsterte, während das Taxi mich durch den nicht enden wollenden Wald fuhr, soweit wie möglich fort von meinem bisherigen Leben. Die Frage war
nur, ob es ausreichte, um dem zu entfliehen, was mich quälte?
   Die Nachmittagssonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen und tauchte den Wald in ein goldenes Zwielicht. Durch die Scheibe des Taxis wirkte das Spiel von Licht und Schatten, als wäre es nicht von dieser Welt.

Wir fuhren durch die „Brocéliande". Ein Wald so groß und so alt, dass sich mehr Sagen um ihn rankten, als an einem Abend erzählt werden konnten. Ich band meine kaffeebraunen Haare zu einem Zopf zusammen und fragte mich, ob wir nicht bald das Ende der Welt erreichen würden. Das Ende der Welt hieß in diesem Falle Paimpont in der Bretagne, meiner neuen Heimat für das kommende Schuljahr. In den Händen hielt ich den Reiseführer, den ich auf dem Flug nach Paris gelesen hatte. Das dicke Buch, das Abschiedsgeschenk meiner Eltern, roch nach frischer Druckerschwärze. Ich vermisste die beiden schon jetzt, doch ich musste gehen, wenn ich jemals ein normales Leben führen wollte.

   „Mademoiselle, wir sind gleich da."
   Ich riss die Augen von den Bäumen los und sah gerade noch, wie das Taxi das grüne Ortseingangsschild passierte.
Ein paar hundert Meter weiter bogen wir auf einen Schotterweg ein. Links und rechts wuchsen turmhohe Nadelbäume in den Himmel und am Ende des Weges lag ein
einzelnes Haus vor uns. In den letzten Tagen hatte ich mich oft gefragt, wie es hier aussehen würde. Meist hatte ich dabei an ein modernes Einfamilienhaus gedacht. Das Haus, vor
dem wir hielten, war das komplette Gegenteil. Es bestand aus diesen erdfarbigen, teilweise mit Moos bewucherten Steinen und hatte grün gestrichene Fensterläden aus Holz, deren Farbe abblätterte. Der Vorgarten war vollgestopft mit hohen Gräsern und wilden Brombeeren und als das Taxi hielt, stieg
mir der Geruch von Tannennadeln und feuchter Erde in die Nase.
   Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich auf die grüne Haustür zuging. Hoffentlich waren meine Gasteltern, die Duvals, so liebenswert, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Die Klingel schrillte und ich wartete darauf, Schritte hinter der Tür zu hören, doch nichts passierte. Auch nicht beim zweiten und dritten Klingeln. Niemand öffnete. Ich vergewisserte mich am Briefkasten, dass hier die Familie
Duval wohnte. Alles war korrekt, ich war am richtigen Haus,nur war keiner da.
  
Verdammt, musste das so anfangen? Ich trat reflexartig gegen die Tür und Schmerz durchzog meinen Fuß. Nein, ich durfte mich nicht gleich aufregen, auch wenn sich die mir
nur zu gut bekannte Hitze durch meinen Körper fraß.

   Ich setzte mich auf die Stufen vor dem Haus und atmete tief ein und wieder aus. Sicher hatten die Duvals einen Grund, nicht da zu sein. Es brachte nichts, sich zu ärgern.
Sie würden bestimmt gleich kommen. Vielleicht war das Taxi früher als erwartet da, oder sie waren aufgehalten worden.

Ich atmete nochmals tief durch und ließ den aromatischen Geruch des Waldes wirken, der direkt hinter dem Haus begann. Kein Grund sich verrückt zu machen, oder?
   Ich zog mein Handy heraus und tippte eine Nachricht an meine Mutter. Es war ihr wichtig, von mir zu hören und genauso wichtig war es, nicht zu erwähnen, dass die Duvals nicht aufgetaucht waren.

Die Sonne näherte sich langsam den Baumwipfeln. Sollte es Nacht werden, bevor die Duvals nach Hause kamen? Ich stand
auf und ging ein paar Schritte in den Garten hinein um das Haus herum. Hinter dem Haus wuchsen ein paar Sträucher, vor allem wilde Himbeeren, deren Duft mir in die Nase stieg. Ein paar Meter weiter begann schon der Wald. Ich rieb an meinem Lederarmband am rechten Handgelenk herum. Es juckte darunter, wie immer, wenn die Schnitte heilten. Dann entdeckte ich ein beleuchtetes Fenster. War doch jemand zu Hause, der mich vorhin nicht gehört hatte? Ich ging zurück zur Tür und klingelte erneut. Zweimal. Doch niemand öffnete.

Verdammt, ich hatte gedacht, hier würde alles besser werden. Hier würde ich das Leben führen, das ich mir wünschte. Das man haben sollte, wenn man jung war. Hier würde ich in den Nächten durchschlafen, aktiv und gesellig
sein und nicht zu Hause grübeln.

Das LOS der EwigkeitWhere stories live. Discover now