49. Kapitel

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Als ich die Augen öffnete, dachte ich für einen winzigen Moment, dass ich aus einem meiner Alpträume erwacht wäre, doch dann sah ich ihn.

Samuel, er stand mit dem Rücken zu mir an einem Fenster und blickte durch einen Spalt im Vorhang aus dem abgedunkelten Raum nach draußen.

„Guten Morgen, ich hoffe, du hast gut geschlafen", seine Stimme klang klar und emotionslos wie immer.

„Wo sind wir? Wie bin ich hierhergekommen?" Meine Stimme klang belegt und mein Kopf dröhnte. Ich lag in einem Bett und das Letzte, an was ich mich erinnerte, war, dass ich im Auto gesessen hatte.
  
Samuel zog die Vorhänge ein Stück auf und die Sonne schien herein. Ich musste die Augen wegen der Helligkeit zusammenkneifen und konnte sie erst langsam wieder öffnen.

„Wir sind in einem Hotel in Rennes. Das von der Visitenkarte, du erinnerst dich?"

Er setzte sich auf einen Stuhl, der neben einem Schreibtisch stand. „Du bist im Auto eingeschlafen und ich konnte nicht riskieren zu uns zu fahren."

Er trug ein frisches Hemd, eine saubere Jeans und musterte mich mit beunruhigtem Blick, als wäre ich eine Bombe, die jeden Moment explodieren könnte.
  
Das Zimmer war modern eingerichtet und ich setzte mich auf, um mich umsehen zu können. Das war der Moment, als mir auffiel, dass ich unter der Decke nur Unterwäsche trug.

„Was ist passiert?"
  
Samuel wandte den Blick von mir ab und nahm ein Prospekt vom Schreibtisch. „Deine Hose und dein Shirt waren dreckig und nass. Ich habe alles in die Hotelwäscherei gegeben. Es müsste jeden Moment sauber wieder geliefert werden. Du kannst solange einen Sweater von mir anziehen."
  
Ich starrte ihn an. Er hatte mich ausgezogen, während ich geschlafen hatte? Ich war mir nicht sicher, ob ich das beunruhigend oder fürsorglich finden sollte.
  
Ohne von seiner Lektüre aufzusehen, sagte er: „Ich dachte, es stört dich nicht. Du hast dich auf der Party doch auch vor mir ausgezogen."

„Das war etwas anderes."
  
Er sah vom Prospekt auf und eine winzige Sekunde dachte ich, dass es ihm peinlich wäre, doch dann sagte er: „Auf der Party war es in keiner Weise nötig, sich auszuziehen, aber hätte ich dich letzte Nacht so nass liegen lassen, wärst du jetzt sicherlich krank."

Dann warf er mir aus einer Tasche, die neben dem Schreibtisch stand, einen Sweater aufs Bett und nahm den Hörer des Zimmertelefons ab.
  
Ich streifte den Sweater über, hievte meine schmerzenden Knochen aus dem Bett und ging in Richtung Badtür.

Samuel bestellte währenddessen Frühstück.

Das heiße Wasser belebte meine Sinne, und der Ärger darüber, dass er mich offenbar für eine Schlampe hielt, verschwand in meinen wiederkehrenden Erinnerungen an die gestrige Nacht. Er konnte nicht sterben, hatte er gesagt.

Das war kein Traum. Ich hatte das alles gesehen. Ich fragte mich, ob auch der süße Lenni so war wie er. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich in seinen Armen lag. Dann fiel mir ein, wie er auf wundersame Weise von den Verletzungen geheilt wurde. Da hatte ich die Antwort auf meine Frage. Offenbar war dies das Geheimnis aller Bernetts.
  
Während ich seinen aufregend riechenden Sweater überzog und meine nassen Haare in eines der weißen Handtücher wickelte, klopfte es an der Tür. Das Frühstück war da.
  
Auf dem Bett stand ein Tablett mit Croissants, Brötchen, Wurst, Käse, Konfitüre und Kaffee.

Ich war das erste Mal in meinem Leben in einem richtigen Hotel und ein Frühstück im
Bett mit meinem Traummann war so ziemlich das Romantischste, was ich mir vorstellen konnte. Doch als ich mich setzte und ihm in die Augen sah, war das ganz und gar nicht romantisch, eher beunruhigend, fast schon beängstigend.
  
In meinem Kopf tanzten tausend Fragen. Doch das erste Mal im Leben hatte ich Angst, sie zu stellen. War mein angeknackstes Unterbewusstsein dem gewachsen? Würde er überhaupt antworten? Und was zum Teufel war mit mir los, dass mein Herz immer noch raste, wenn ich ihn ansah?

„Was willst du essen? Du hast doch Hunger, oder?" Samuel hatte die Kaffeekanne in der Hand und ich nickte mechanisch.

Der Kaffee war stark und der Koffeinschock beschleunigte meinen Herzschlag noch mehr. Samuel saß auf der anderen Bettseite und biss in ein Croissant. Ich beobachtete, wie sich seine Kiefermuskulatur beim Kauen mit einer Gelassenheit bewegte, die ich sexy fand.

Verdammt, wie bescheuert musste man sein, um Kaubewegungen zu bewundern?

„Was hast du jetzt vor?", fragte ich, um mich abzulenken.
  
Samuel nahm einen Schluck Kaffee und griff sich eins der Brötchen. „Was glaubst du denn, was ich vorhabe?"

Diese Gegenfragerei nervte mich. Was sollte das schon wieder? „Ganz ehrlich", sagte ich, „ich habe keine Ahnung und zu viel Kopfschmerzen, um mir darüber Gedanken zu machen. Also entweder du sagst es mir oder du lässt es."
  
Samuel legte das Brötchen weg und ich erwartete eine Ansprache, in der Formulierungen wie „das Richtige tun" und
„Anstand und Respekt haben" vorkamen.

Doch dann sagte er: „Ich weiß, dass du Fragen hast und ich werde sie alle beantworten, versprochen."

In seinen Augen konnte ich für einen Moment etwas erkennen, wovon ich nicht wusste, ob es Traurigkeit oder Hoffnung war.

„Aber nicht hier und jetzt, sondern heute Abend Liv, ok?"
  
Ich starrte ihn an. „Seit wann gibst du mir freiwillig Antworten? Das ist ja ganz neu."

Samuel hob die Augenbrauen, dann schmunzelte er.

„Nun, vielleicht weil ich erkannt habe, dass dein Sturkopf größer ist als meiner? Oder es hat einfach eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich so und so nicht in der Lage bin dich weiter anzulügen. Vermutlich ist es besser so, oder es macht alles schlimmer, ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich und will ich dir nichts mehr verschweigen. Du sollst endlich alles erfahren."
  
Ich atmete tief durch und er beobachtete mich mit seinen beunruhigenden Augen.

Die Spannung in der Luft zwischen uns
war greifbar. Etwas hatte sich verändert.

Er hatte sich verändert.

Er meinte es ernst, ich würde alles erfahren, was er mir je verheimlicht hatte. Alles. Verdammt. Wollte ich das?

Das LOS der EwigkeitWhere stories live. Discover now