41. Kapitel

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Am nächsten Morgen wartete zu Amelies Verwunderung kein Mercedes auf uns.

Ich erzählte ihr, Samuel hätte einen
dringenden Auftrag von der Uni und würde sich wieder melden, sobald er Zeit hätte. Sie schluckte die Erklärung und ich versuchte, die Erleichterung, ihn nicht sehen zu müssen und die Enttäuschung, dass es ihm nun tatsächlich egal war, was mit mir geschah, zusammen mit allen verrückten Gedanken an ihn zu verbannen.
  
Das funktionierte super bis ich in der Schule ankam und Paul wieder an seinem Platz saß. Als er mich sah, rutschte er mit dem Stuhl nach außen und wich meinem Blick aus.

Toll! Vermutlich hatte ihm Samuel klargemacht, dass er sich von mir fernhalten sollte. Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, kam die Lacour in die Klasse. Sie forderte uns auf, im Zuge einer philosophischen Analyse unseres Lebens bis nächste Woche eine Liste mit Dingen zu erstellen, die wir tun wollten, bevor wir sterben.

Das Thema führte zu jeder Menge Gesprächsstoff und viele hatten tausend tollkühne Ideen. Es reichte von „den Mount Everest besteigen" bis hin zu „die Schule abbrennen."
  
Während des Nachmittagsunterrichts legte ich ein Blatt weißes Papier vor mich auf den Tisch und dachte über die Liste nach, um nicht wieder über Samuel nachdenken zu müssen.

Ich fand, die Frage war von der Lacour falsch gestellt. Auf so eine Liste sollte sicher nicht drauf, was man noch machen wollte bis zum Tod, sondern eher, was man bedauern würde, hätte man es bis zum Tode nicht getan.
  
Was war das in meinem Falle? Das war eine schwierige Frage, zumal ich Bergsteigen nichts abgewinnen konnte und die Schule im Grunde mochte. Ich kippelte mit dem Stuhl vor und zurück, dann kippte der Stuhl zu weit und ich hielt mich reflexartig an Pauls Ärmel fest. Paul zuckte zusammen und starrte mich mit Panik im Blick an. Als ich ihn losließ, sprang er auf und rannte aus dem Zimmer, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Ich sah ihm nach, dann blickte ich auf den
weißen Zettel vor mir und notierte: „Bis ich sterbe, will ich das Geheimnis der Bernetts lüften."
  
Nach dem Unterricht wimmelte ich Amelie ab, die wollte, dass ich mit zu Evelyn ging, um die Geburtstagsparty morgen vorzubereiten. Doch ich wollte rüber zur Abtei.

Ich musste dringend ein paar Stunden Schlaf nachholen, wenn ich nicht auch Schlafen auf meiner Liste notieren wollte. Wer auch immer mich verfolgte, würde mich sicher nicht in einem öffentlichen Haus Gottes entführen. Oder?

In der kleinen Kapelle setzte ich mich auf eine vordere Bank und hatte gerade die Augen geschlossen, als ich hinter mir seine unverwechselbare Stimme hörte.

„Hallo Liv." Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich neben mich setzte. „Ich wusste, dass ich dich hier finde." Er taxierte mich mit seinen leuchtenden Augen und ich rang nach Fassung.

„Was machst du hier?", brachte ich heraus und wappnete mich schon für eine seiner üblichen Ansagen.

Er atmete hörbar durch, bevor er antwortete. „Nun, ich könnte sagen, ich bin hier, um dich beim Schlafen zu beobachten oder um dich vor dir selbst zu schützen. Ich meine, du scheinst überhaupt keine Angst zu haben, wenn du tatsächlich an einem öffentlichen Ort besser schläfst als zu Hause. Aber.." Er atmete erneute tief ein. „Eigentlich bin ich hier, weil ich mich entschuldigen möchte."

Wie bitte? Hatte ich mich verhört. Er sah mich an und ich spürte die Überwindung, die ihm dieser Satz abverlangt hatte.

„Ich habe lange nachgedacht, Liv und ich habe erkannt, dass es nicht richtig war, dir das alles zuzumuten. Ich hätte dir nicht Angstzumachen und dich meinen Launen auszusetzen dürfen. Normalerweise bin ich nicht so unbeherrscht wie in deiner Gegenwart. Es tut mir leid. Entschuldige bitte."

Er konnte meinen Blick offenbar nicht länger standhalten und blickte kurz zu Boden, um mich gleich danach wieder anzusehen.

„Ich möchte weiter auf dich aufpassen" fuhr er fort. „Bitte lass mich das machen. Es ist mir wichtig. Ich verspreche dir, dass ich nicht mehr so ein Idiot sein werde."
  
Er lächelte mich an und wippte mit seinem Knie hin und her, was für ihn so ungewöhnlich war, dass mein Blick an seinem Bein hängen blieb.

Er war offensichtlich nervös. Konnte es sein, dass er diese Entschuldigung ernst meinte?

„Bitte sag etwas, Liv."

Ich atmete tief ein und wieder aus. Ich musste herausfinden, wie ernst es ihm war. „Ich habe eine Bedingung", sagte ich.

„Lass hören."

„Ich brauche Antworten, Samuel."

Er atmete tief aus und ich kniff die Augen zusammen, weil ich erwartete, dass er mir wieder eine Standpauke hielt. Stattdessen nickte er kaum wahrnehmbar.

„Gut, ich sage dir alles, was ich verantworten kann, versprochen."

Träumte ich? Wer war dieser Mann und was hatte er mit dem emotionslosen und feindseligen Samuel gemacht?

„Noch etwas?", fragte er.

„Ich brauche Schlaf und will wissen, wie es Lenni geht."
  
Er betrachtete mich für einen Moment, und ich hätte schwören können, dass ich in dem undurchsichtigen Grün seiner Augen die Zerrissenheit seiner Seele sehen konnte.

„Leg dich hin Liv, und schlaf zwei Stunden. Ich wecke dich dann. Danach üben wir nochmals Autofahren und gehen joggen. Dabei erzähle ich dir von Lennart. Einverstanden?"
  
Ich nickte und er lächelte mich an. Von diesem Anblick war ich so gefangen, dass ich wohl kaum einschlafen konnte.

Mein Gott, er verwandelte mich langsam in so ein schmachtendes, kicherndes Huhn, wie die Tussis in der Schule, die ich nicht ausstehen konnte. Ich musste rausbekommen, was mit den Bernetts nicht stimmte.

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, wenn ich tatsächlich etwas wie Liebe empfand. Jemand der meine Seele berühren konnte, musste doch zwangsläufig ein Monster sein, oder?
  

Das LOS der EwigkeitWhere stories live. Discover now