1 | Mahaifa - Zuflucht der Free

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»Mit der halben Karte können wir überhaupt nichts anfangen! Es ist, als würde man mit einer Augenklappe durchs Leben laufen. Wir brauchen die beiden anderen Stücke!»

Hannah rollte die bis eben auf dem Tisch in der Kapitäns-Kajüte ausgebreiteten Schriftstücke ineinander und verstaute sie in einer wasserfesten Lederhülle. Dann überreichte sie diese ihrer engsten Vertrauten. »Du musst auf die Karten aufpassen, solange ich in der Stadt bin, um mit diesem Sturkopf zu reden«, sagte sie zu der Rothaarigen, die sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

»Ihr seid beide zwei sture Esel, meine Liebe«, sagte sie und lächelte ihre Freundin dabei liebevoll an. »Hättet ihr euch darauf einigen könnten, wer diese Schatzsuche anführt, bräuchten wir nicht mit zwei Schiffen loszufahren.«

Hannah schnaubte und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Du bist meine beste Freundin, Diyanne. Dir vertraue ich. Aber Darrel ist neu in der Stadt. Und beim letzten Mal...«
»Beim letzten Mal hat er einen Fehler gemacht, ja. Er ist vorgeprescht und hat sich verkalkuliert. Nimm es ihm nicht zu übel! Wir machen alle Fehler.«

Diyanne schritt auf ihre aufgebrachte Freundin zu und nahm ihr rundes Gesicht in ihre zarten Hände. »Glaub mir, wir werden es allein nicht schaffen. Vielleicht solltet ihr noch einmal miteinander reden.«

Der tiefe Blick aus grasgrünen Augen ließ Hannah kurz aufatmen und zur Ruhe kommen. Sie wusste, dass Diyanne recht hatte. Sie war ihre älteste und engste Freundin und hatte, im Gegensatz zu Hannah, immer die nötige Ruhe und Besonnenheit, Dinge erst einmal zu betrachten, statt sich in neue Situationen zu werfen und impulsiv zu handeln.

Die junge Frau mit den haselnussbraunen Haaren und den meerblauen Augen wusste, dass ihre Forschheit nicht gerade dazu beigetragen hatte, den aufkommenden Streit um die Karte zu verhindern. Doch sie hatte sich furchtbar über Darrel geärgert. Und dass Ronan sich auf seine Seite gestellt hatte, war ihr ebenso ein Dorn im Auge. Dennoch mussten sie sich gegenseitig helfen, oder nicht?

»Okay«, knickte sie ein. »Ich werde mit ihnen reden.« Das Strahlen in den Augen ihrer Freundin war nicht zu übersehen.
»Braves Mädchen«, grinste Diyanne und drückte Hannah einen Kuss auf die Wange. »Und nun los, hopp, hopp.«

Als Hannah die Planke ihres Schiffes zum Steg hinabstieg, schlug ihr eine warme, vom Duft nach geräuchertem Aal und Makrele angereicherte, Brise entgegen. Möwen kreischten laut und stießen in der Hoffnung auf Beute immer wieder nach unten. Die Fischer hatten einen guten Fang gemacht und boten ihre Ausbeute direkt von ihren Booten aus zum Verkauf an. Ein paar von ihnen verpackten frische Räucherware in alte Zeitungen und trugen sie in großen Körben in die Stadt, zu der auch Hannah unterwegs war.

Der schmale Holzsteg, an dem sie heute Morgen ihrem Zweimaster vertäut hatte, führte geradewegs von dem kleinen Hafen und dem anliegenden Fischerdorf in die Ringstadt der Insel. Mahaifa war, im Vergleich zu anderen der östlichen See von Domhain, keine sehr große Insel, aber dafür eine mit Charme. Umgeben von mehreren Dörfern, in denen Fischerei und Landwirtschaft betrieben wurden, erhob sich auf einer kleinen Anhöhe die mittelalterliche Stadt, mit einem Götterschrein, Wohngebäuden, Handelshäusern und Gebäuden des verarbeitenden Gewerbes.

Mahaifa hatte sich zu großen Teilen ihren autarken Status über die letzten Jahre erhalten, obwohl auch hier die Fischgründe immer kleiner geworden waren. Und sie rühmte sich dafür, dass sie die letzte Zuflucht für alle Geschöpfte war, die sich entschlossen hatten, frei von den gesellschaftlichen Zwängen der großen Hauptinseln zu leben. Denn dort wohnten vor allen die reichen und privilegierten Vesthalien, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, ihre Macht und ihren Reichtum auf Kosten anderer zu mehren. Manchmal kam es vor, dass Geschöpfe es schafften, in diese höhere Klasse aufzusteigen. Aber das war eher die Ausnahme und für Hannah nicht im Geringsten erstrebenswert.

Das gekaperte Herz (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt