16 | Die wandelnde Insel

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Ein paar Tage später hatte das Meer sich wieder beruhigt und Hannah stand mit ihrer Crew auf dem Deck der Sturmwind, die gerade Kurs auf die wandelnde Insel nahm. Sie war noch immer ein wenig erschöpft, aber dankbar für ihr Überleben. Ihre Blicke richteten sich auf das Meer, das nun die letzte Ruhestätte der tapferen Wavedancer war, ein Denkmal für ihr mutiges und abenteuerliches Leben auf hoher See. Nicht weit von Serenity Bay hatte sich die riesige Schildkröte niedergelassen und verspeiste genüsslich die Überreste ihrer Beute, die sie vor zwei Nächten erlegt hatte. Ein dicker Krakenarm hing ihr noch aus dem Winkel ihres Mauls und Hannah fand, dass sie aussah, als würde sie zufrieden lächeln. Konnten Schildkröten lächeln?

»Fühlst sich die Sturmtochter nicht wohl auf der Sturmwind«, fragte Yan behutsam, als sie sich neben Hannah an die Reling stellte. Ihre roten Haare wehten verspielt im lauen Wind, der in der geschützten Bucht wehte. Sie hatte sich die letzten zwei Tage gemeinsam mit den anderen um Hannah gekümmert, und obwohl sie ganz gesund schien, spürte die Freundin den Schmerz, den Hannah in ihrem Herzen trug. Trotz des guten Wetters und der sommerlichen Brise schafften es Yans Worte nicht, Hannahs Traurigkeit zu durchbrechen. Sie bewirkten eher noch, dass Hannah sich mit ihrem neuen Schicksal auseinandersetzen musste.

»Ich vermisse mein Schiff, Diyanne«, sprach sie aus, was sie bewegte. »Die Wavedancer war mein ein und alles! Ohne sie fühle ich mich so nutzlos. Was ist denn schon ein Kapitän ohne Kahn? Wie kann ich denn weiter Piratin sein, wenn meine treue Begleiterin auf dem Grund des Meeres liegt und vor sich hin rottet? Alles habe ich verloren, Yan! Alles!«

Die Wandlerin sah Hannah mitfühlend an. »Ich kann deinen Schmerz nachvollziehen, Hannah«, sagte sie sanft. »Die Liebe zu einem Schiff geht tief, und der Verlust ist wie das Fehlen eines Teils von dir selbst. Aber du bist mehr als nur dein Schiff. Du bist eine talentierte Kapitänin, mutig und klug. Auch ohne die Wavedancer bist du immer noch eine Piratin.«

Sie legte ihre Hand sanft auf Hannahs Schulter und versuchte, ihr ein wenig Halt zu geben. »Jeder Pirat hat Höhen und Tiefen, und es ist okay, sich verloren zu fühlen. Aber du hast Freunde an deiner Seite, die dir helfen werden, wieder aufzustehen. Und wer weiß, vielleicht ist der Schatz ja groß genug, um dir ein neues Schiff zu kaufen.«

Hannah sah ihre Freundin dankbar an, Tränen glänzten in ihren Augen. »Danke, Süße«, flüsterte sie. »Es ist gut zu wissen, dass ich nicht allein bin.«

Yan lächelte sie warmherzig an. »Du bist nie allein, Hannah. Wir sind eine Crew, eine Familie. Und wir werden immer füreinander da sein!«

Als sie die Schildkröte fast erreicht hatten, ging Hannah zu Darrel, der am Steuer der Sturmwind stand und Kurs auf die vermeintlicheInsel hielt

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Als sie die Schildkröte fast erreicht hatten, ging Hannah zu Darrel, der am Steuer der Sturmwind stand und Kurs auf die vermeintlicheInsel hielt. Seine dunklen Haare wehten wild und frei im Wind und Hannah musste lächeln, als sie erkannte, dass er das neue Hemd trug, dass sie im Celestial Couture auf unbestimmte Zeit geborgt hatten. Es stand ihm wirklich sehr gut.

»Ahoi, Kapitän«, grüßte sie ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. »Wir kommen gut voran«, stellte sie fest. Darrel drehte sich zu ihr um. Ein erfreutes Lächeln zierte seine Wangen. »Ahoi, Sturmkind! Wir machen gute Fahrt. Nephrim schenkt uns Wind in den Segeln", antwortete er.

»Das ist gut«, meinte Hannah und sah zur Insel hinüber. »Meinst du, dass sich der Schatz diesmal wirklich dort befindet? Oder ist das nur wieder ein erneutes Rätsel, das wir lösen müssen? «

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich dort etwas befindet, das wir öffnen müssen«, verriet Darrel. »Und da es auf dem Rücken dieses Tieres nicht allzu viel gibt«, lachte er, »gehe ich stark davon aus, dass es sich um eine mächtig große Truhe handelt, in der sich ein gigantischer Schatz befindet. «

»Du stehst wohl auf Übertreibungen«, meinte Hannah amüsiert.

»Wieso auch nicht", grinste Darrel, "Ich habe von Natur aus selbst einen mächtig großen...«

»Darrel! «

»Wortschatz, wollte ich sagen! Was dachtest du denn? «

»Warum bist du dir so sicher, dass die Truhe so groß ist?«, überlegte Hannah, um sich selbst abzulenken. »Gibt es dafür ein Indiz?«

»Aber sicher«, sagte Darrel und griff in seine Hosentasche. »Hier, ich zeige dir mal meinen immens gigantischen...«

»Darrel!«, stieß Hannah erneut aus.

»Schlüssel!«, vollendete Darrel den Satz. »Was stimmt nicht mit dir? «, lachte er amüsiert. »Hier«, sagte er und hielt ihr dann die geschlossene Faust hin.

»Was ist das?«

»Ein Friedensangebot. Ein Schlüssel, den die Riesenschildkröte vor nicht allzu langer Zeit in diese Bucht gebracht hat. Als sie das erste Mal in der Nähe der Insel aufgetaucht ist, haben die Fischer angefangen sie zu füttern, um sie zu besänftigen und die Götter um einen guten Fang zu bitten. Einer von ihnen fand den Schlüssel, den ihr jemand um den Hals gebunden haben musste und nahm ihn an sich. Die Menschen aus dem Dorf brachten ihn in ihren Schrein und seitdem ist die Schildkröte in diesen Gewässern zuhause.

Als ich meiner Freundin erzählte, dass wir nach einem Schatz suchen, fiel ihr ein, dass kurz vor dem Erscheinen der Schildkröte ein alter Pirat auf die Insel gekommen war, der immer sehr grimmig geschaut hatte. Daher vermutete ich schon, dass die wandelnde Insel diese Schildkröte ist. Hättest du mir zugehört...« Darrel ließ den Satz unvollendet. Hannah hatte für ihren Fehler schon genug gelitten.

»Ich gebe dir den Schlüssel und biete dir an, mit mir zusammen die Sturmwind ans Ziel zu führen. Gemeinsam mit unseren Freunden. Was sagst du?«

Hannah blickte auf Darrels ausgestreckte Hand und die geschlossene Faust, die das Versprechen eines Neuanfangs zu symbolisieren schien. Sie war versucht, seine Geste als weiteren Versuch abzutun, sie hereinzulegen, doch etwas in seinem Blick und Ton ließ sie innehalten.

»Du meinst es wirklich ernst, oder?«, fragte sie, ihre Augen suchten die seinen nach Anzeichen von Täuschung oder List. Doch alles, was sie sah, war Ehrlichkeit und der Wunsch, die Wunden der Vergangenheit zu heilen.

»Ja, Hannah. Ich meine es ernst«, antwortete Darrel fest, die Faust weiterhin ausgestreckt. »Ich glaube an uns, an das, was wir gemeinsam erreichen können. Lass uns die Vergangenheit hinter uns lassen und gemeinsam in die Zukunft segeln.«

Nach einem Moment des Zögerns griff Hannah nach Darrels Faust und öffnete sie vorsichtig. Sie blickte auf den Schlüssel und griff dann danach, bevor sie ihn einsteckte. Neugierig sah sie Darrel wieder an. »Darf ich dann auch mal das Schiff steuern?«, fragte sie gespannt.

»Nein«, meinte Darrel und grinste.

»Ach komm schon!«, bettelte Hannah, «Wir spielen Säbel, Fels, Pergament! Wer gewinnt, darf das Steuer übernehmen.« Darrel zog eine Augenbraue nach oben. Dann hob er den Zeigefinger. »Aber ohne Brunnen!«

Hannah überlegte kurz. Doch dann lachte sie über diese Antwort und freute sich, bald mit ihren Freunden die wandelnde Insel emporzusteigen.

Das gekaperte Herz (ONC 2024)Where stories live. Discover now