Epilog

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»Und als sich ihre Lippen endlich vereinten, spürten Hannah und Darrel, dass der Schatz, den sie die ganze Zeit in allen Winkeln ihrer Welt gesucht hatten, von Anfang an in ihren Herzen geschlummert hatte und sie sich nur dem Menschen öffnen mussten, der es vom ersten Augenblick an gestohlen hatte. Als sie sich voneinander lösten, fühlten sie, wie ihre gekaperten Herzen wieder frei wurden und bereit waren für die Liebe, nach der sie sich immer gesehnt hatten. Ende.«

Mit einer zufriedenen Geste legte der Spielleiter sein Buch zur Seite und ließ seinen stolzen Blick über die Mitspieler gleiten. »Dieses Mal war Nephrim uns hold! Wir haben das Spiel gewonnen!«, verkündete er mit einem Hauch von Triumph das Ergebnis.

Zu seiner Verwunderung sah er in zwei enttäuschte Gesichter. »Das mit dem Kuss war schon ein bisschen 'too much', oder? Ziemlich kitschiges Ende«, bemerkte der junge Mann mit den dunklen Haaren und warf einen Blick zur Spielerin ihm gegenüber.

Die Braunhaarige zog eine Augenbraue hoch. »Sehr charmant, Thommy! Es scheint mir, als hätte Ronan, ich meine natürlich Roland, deinen Charakter gut erkannt. Darrel kam sehr gut raus!«, spottete sie.

»Danke, Hellen! Ich finde nur, dass es nicht so recht zu Hannah passt, dass sie Darrel am Schluss geküsst hat. Sie hätte das Schiff nehmen und mit dem Schatz verschwinden können. Das wäre doch eher ihr Stil gewesen«, erklärte Thommy triumphierend und verschränkte die Arme vor der Brust, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte.

»Moment«, warf Hellen ein. »Roland hat nicht gesagt, dass Hannah Darrel geküsst hat. Ich wette, dass es Darrel war, der schlussendlich den ersten Schritt gemacht hat. Die Initiative ging auf jeden Fall von ihm aus, oder Roland?«

Gespannt sahen die beiden Streithähne den Spielleiter an. Der grinste nur und zuckte dann mit den Schultern. »Das steht hier tatsächlich nicht so explizit drin. Lasst eure Fantasie spielen.«

»Mir hat die Geschichte gefallen«, meldete sich nun die Rothaarige zu Wort. »Besonders der Name, den du meinem Charakter gegeben hast, fand ich sehr charmant. Und dass ich mich verwandeln konnte. Das war ein nettes Gimmick.«

»Natürlich, Liebling«, grinste Roland und legte einen Arm um seine Frau. »Das war ich dir auch schuldig, nachdem ich dich das letzte Mal nicht aus diesem Zombie-Keller retten konnte.«

»Eigentlich war das ja Thommys Schuld«, warf Hellen ein und erntete ein Augenrollen von ihrem Gegenüber.

»Fängst du schon wieder damit an? Ich dachte, darüber wären wir längst hinweg?«, entgegnete er.

»Wenn du besser würfeln würdest, wären wir auch nicht ständig in diesen Strudeln hängen geblieben«, bemerkte Hellen.

»Und wenn du dich nicht für den nächtlichen Aufbruch entschieden hättest, hätte ich dich nicht vor dem Ertrinken retten müssen«, erwiderte er.

»Aye, ich bin ganz schön müde! Es ist schon fast zwei Uhr«, gähnte Diy und reckte sich auffällig. Hellen spürte, dass dies das Zeichen zum Aufbruch war und beschloss, nicht weiter auf Thommys Provokation einzugehen. »Sehen wir uns übermorgen zum Brunchen?«

Ihre Freunde nickten. Dann zogen sie und Thommy ihre Jacken an und verabschiedeten sich von dem Paar. An der Straße blieben sie kurz stehen, bevor sie in ihre Autos steigen wollten.

»Sag mal, Thommy«, meinte Hellen plötzlich. »Diese Frau, die Roland in die Geschichte eingebaut hat, und das Kind... haben die beiden eine bestimmte Bedeutung für dich?«

Thommy überraschte die Frage. Er hatte Hellen erst vor wenigen Wochen kennengelernt, als sie das erste Mal zusammen ein Pen-and-Paper-Spiel mit Roland und Diy begonnen hatten. Ihr Kampf gegen die Zombie-Apokalypse war dabei desaströs geendet, als Thommy auf das Würfeln bestanden und kein Glück gehabt hatte. Diy und Hellen waren am Ende in einem dunklen Keller von Zombies zerfleischt worden, was Hellen ihm immer noch nachtrug.

Doch ihre nun private Frage eröffnete ihm die Möglichkeit, sich von einer anderen Seite zu präsentieren. Einer Seite, die nicht egoistisch war. Sondern eher so, wie Roland ihn als Darrel dargestellt hatte: Als einen nach außen selbstbewussten jungen Mann, der sich im Herzen doch nur nach Liebe und Geborgenheit sehnte und manchmal einfach nicht wusste, wie er diesen Wunsch auch zeigen konnte.

»Was hältst du denn davon, wenn wir beide mal ausgehen und uns näher kennenlernen?«, fragte er, einer spontanen Eingebung folgend. »Dann erzähle ich dir von meinem Sohn und meiner sehr kurzen Ehe, und du erzählst mir von deinen verlorenen Herzensmenschen. Und vielleicht erfahren wir dann auch, ob Darrel Hannah oder Hannah Darrel zuerst geküsst hat?«

Das breite Grinsen, das sich auf Tommys Gesicht ausbreitete, brachte Hellen dazu, sich ebenfalls zu freuen. Vielleicht war es nun wirklich an der Zeit, sich gegenseitig besser kennenzulernen. Denn eine Gemeinsamkeit hatten sie bereits: Sie hatten zwei sehr gute gemeinsame Freunde. ‚Wenn er der Freund meiner Freunde ist, kann er nicht so schlecht sein', dachte Hellen.

»Okay, Thommy, ich gehe mit dir aus!« Hellen lächelte ihn an. »Aber bitte lass uns keine Bootsfahrt machen. Ich werde nämlich seekrank.« Etwas verlegen strich sie sich eine braune Locke hinter das Ohr.

Thommy lachte laut auf. »Das ist ja ein Zufall! Ich mag das Meer auch nicht besonders! Es ist so unberechenbar und gefährlich. Mir sind die Berge deutlich lieber!«

Hellens Grinsen wurde breiter. »Mir fällt da gerade noch etwas ein. Wir haben ja noch eine Rechnung offen!« Mit diesen Worten gab sie Thommy einen sanften Schubs, und er stolperte vom Gehweg auf die Straße. Zum Glück war weit und breit kein Auto in der dunklen Nacht unterwegs.

»Hey, was sollte das?«, fragte Thommy empört.

»Ich habe gerade gewonnen«, erklärte Hellen zufrieden. Thommy sah sie fragend an.

»Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit?«

»Ich habe es dir doch versprochen. Ich werde dich von der Kante stoßen!«

Thommy lachte auf und schüttelte amüsiert den Kopf. »Zumindest war es nur die Bordsteinkante und nicht die...«

»Lass es lieber«, lachte Hellen und griff nach ihrem Autoschlüssel. »Ruf mich morgen an. Dann quatschen wir!«

Thommy nickte. »Mache ich. Gute Nacht, Sturmtochter!«

»Gute Nacht, Landratte!«

Mit einem letzten Augenzwinkern trennten sie sich. Das Abenteuer auf See war vorbei, doch das wahre Leben hielt noch mehr für sie bereit, versteckt hinter den Horizonten ungewisser Tage. Vielleicht würden sie gemeinsam die nächste Fahrt antreten, die Segel gespannt, um den Wind der Zukunft zu fangen.

ENDE

⭐️ ca. 29.000 Wörter ⭐️

Das gekaperte Herz (ONC 2024)Where stories live. Discover now