13 | Ein Sturm zieht auf

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Hannah stand an der Reling ihres Schiffes und sah auf das Meer hinaus. Im Hafen war das Wasser noch glatt und selbst im Dunkel der Nacht, das nur von einzelnen Sternen im Firmament erhellt wurde, konnte man durch die klare Schicht bis zum Grund sehen. Im Schutz der Dunkelheit krabbelten und schwammen allerlei Krabben, Krebstiere und Fische umher. Einige von ihnen leuchteten mysteriös in die schwarze Finsternis.

Weiter draußen war die See unruhiger, aufgewühlter. Dunkle Wolkenberge türmten sich am Horizont, und der weiße Schaum der Wellenberge war dort auszumachen. Die Luft, die sich hier noch mit einer gewissen Wärme zeigte, würde bald kälter werden und der Wind stärker. Hannah spürte den Wetterumschwung, auch ohne, dass sie in die Ferne geblickt hatte. Eine innere Unruhe überkam sie, wenn das Meer sich veränderte. Es war wie ein Band, das zwischen der Sturmtochter und dem Ozean seit dem Tag ihrer Geburt gewoben worden war. Nicht umsonst hatte sie damals die drohende Gefahr gespürt, die beinahe ihr Schiff in die ewigen Abgründe geschickt hätte.

Doch wie es das Schicksal wollte, hatte sich das Meer irgendwann doch geholt, was ihm seiner Meinung nach zugestanden hatte. Ihre Eltern hatten die Katastrophe nicht überlebt. Und Hannah war unerwartet Kapitänin über ein Piratenschiff und seine Crew geworden, die sie seither so führte, wie ihre Eltern es ihr vorgelebt hatten: Mit Respekt und Entschlossenheit.

Obwohl der Verlust ihrer Eltern sie zutiefst erschüttert hatte, fand Hannah in der Führung des Piratenschiffs eine neue Bestimmung. Sie erinnerte sich an das Vorbild ihrer Eltern, die ihr stets beigebracht hatten, dass wahre Führungskraft durch Anerkennung und Mitgefühl entsteht.

Als Kapitänin stand Hannah nun an der Spitze einer treuen Crew, die sie mit ihrem Mut und ihrer Erfahrung führte. Sie hatte gelernt, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und aus ihnen zu wachsen. Jeder Tag auf See war für sie eine Erinnerung an die Stärke und an die Verantwortung, die sie in sich und für ihre Crew trug. Und es lag an ihr, sie alle zu versorgen und genug Gold heranzuschaffen, um ihnen das freie Leben auf See zu ermöglichen. Denn dort waren sie und ihre Freunde zuhause.

Trotz der Einsamkeit, die sie manchmal überkam, während sie die endlosen Weiten des Ozeans durchquerte, fühlte sich Hannah doch auf seltsame Weise mit dem Meer verbunden. Es war ihr treuster Begleiter und ihr größter Lehrmeister zugleich. Doch tief in ihrem Inneren war der Wunsch, selbst wieder Teil einer Familie zu sein, in den letzten Stunden wieder aufgekommen und würde nun stetig wachsen, wenn sie ihn nicht wieder in ihr Herz einschließen und den Schlüssel über Bord werfen würde.

»Warum so nachdenklich, Sturmtochter?« Darrels Stimme erschreckte Hannah, kam sie doch von so nah, dass er sie leicht hätte überrumpeln können, wäre er ein Feind gewesen. War sie wirklich so unachtsam und abgelenkt gewesen?

»Ach, bist du gar nicht bei den anderen?«, fragte sie überrascht, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen.
Darrel kam näher und lehnte sich neben Hannah an die Reling. Gemeinsam sahen sie auf das Wasser hinaus. »Ich hatte heute keine Lust, mich sinnlos zu besaufen.«

»Kluge Entscheidung!« Hannah starrte weiter auf die Wolken am Horizont, die sich schwarz und bedrohlich zu hohen Bergen aufzutürmen begannen.

»Sieht nach einem Sturm aus...«, murmelte Darrel in die Nacht hinaus.

»Wie gut, dass wir heute hier vor Anker bleiben, oder?« Hannah drehte sich zu Darrel um. Ihr Blick war herausfordernd. Doch er nickte.

»Eine gute Entscheidung, denke ich«, gab er zu. »Ich bin froh, dass wir uns dieses Mal einig waren.«

»Ich auch«, entkam es Hannah, ohne groß darüber nachzudenken. Darrel sah sie erstaunt an.

»Hast du mir gerade zugestimmt?« Hannah zuckte unbestimmt mit den Schultern. Es war ja nicht so, als wäre dies allein seine Idee gewesen. Aber natürlich stellte er es mal wieder so hin, als wäre er der Anführer mit dem Durchblick. Er war ja so arrogant!

Das gekaperte Herz (ONC 2024)Where stories live. Discover now