ix. azriel

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Rhysand war ein angenehmer Zeitgenosse. Er vertrat dieselben Werte wie ich. Hörte wie ich die meiste Musik auf Vinyl. Verbrachte den Großteil seiner Freizeit in der Bibliothek oder dem Antiquariat seines Onkels.

Aus den anfänglich kurzen (zurückhaltenden) Nachrichten wurde schnell längere und irgendwann fingen wir an, zu telefonieren.

Unsere nächtlichen Telefonate endeten meist in einer Tiefe, die der des Marianengrabens zu gleichen schien. In einer Tiefe, die ich nicht von Gesprächen mit einem (mehr oder weniger) Fremden erwartet hätte, immerhin hatten wir uns noch immer nicht getroffen.

Nephtys hatte zu Beginn viele Fragen gestellt, weil sie wissen wollte, wer für meine gute Laune verantwortlich war (die sie irgendwann später als unerträglich abgestempelt hatte). Doch mit der Zeit hatte sie sich damit abgefunden, dass ich ihr nicht mehr Antworten geben konnte, als ich selbst zu wissen vermochte. Denn am Ende des Tages wusste ich lediglich von seinem Profilbild, das ihn zu meinem Bedauern auch noch von hinten abbildete, wie er ungefähr aussah.

Und während der Schnee vor unseren Fenstern mit der zunehmenden Sonne zu schmelzen begann, merkte ich, wie es mir zunehmend schwer fiel, bei jeder eintreffenden Nachricht von ihm, bei jedem Gedanken, den ich ihm widmete, nicht zu lächeln.

Ich vermochte mir nicht auszumalen, wie es wäre, wenn ich Rhysand irgendwann gegenüberstehen würde.

Doch dieses Thema hatten wir bisher weitläufig umgangen. Bis zu diesem Abend. Wobei es wohl eher Nacht war. Die Kirchturmuhr hatte längst zwölf geschlagen und während diese irgendwann verstummte, schien Rhysands Stimme unendlich.

Er erzählte von seinen neuesten Gedichtsfunden, während sich in meinem Kopf klammheimlich das nächste über ihn zusammenfügte.

Plötzlich Stille. Wenige Sekunden später fragte Rhysand: »Bist du noch dran, Azriel?«

Ich nickte, bevor ich realisiert, dass er mich nicht sah. »Ja«, fügte ich schnell an.

»Also?«

»Was also?«

»Hast du am Samstag Zeit?«

»Wozu?«

»Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte Rhysand lachend. »Ich hab dich gefragt, ob du mich auf die Ausstellung einer Freundin kommen begleiten möchtest.«

Mein Kopf begann zu rattern. Natürlich würde ich ihn gern begleiten. Was war das überhaupt für eine Frage? Doch was, wenn er in Realität ganz anders war? Was, wenn der Vibe zwischen uns dann plötzlich ein anderer wäre? Würden wir als Freunde dorthin gehen? Oder war das gerade eine Einladung auf ein Date?

»Ja, es war eine Einladung auf ein Date«, kam es aus meinem Lautsprecher und erst da bemerkte ich, dass ich die letzten Gedanken wohl laut ausgesprochen hatte.

»Ich würde mich sehr freuen, dich begleiten zu dürfen«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.

»Du musst schon lauter sprechen, Azriel, wenn du willst, dass ich dich verstehen.«

»Ja. Ja, ich würde dich gerne begleiten.«

»Dann sehen wir uns wohl am Samstag«, sagte Rhysand und erst da realisierte ich, dass ich ihm in drei Tagen zum ersten Mal gegenüberstehen würde.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 03 ⏰

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