𝟬𝟮 • 𝗪𝗘 𝗪𝗜𝗟𝗟 𝗡𝗘𝗩𝗘𝗥 𝗕𝗘 𝗧𝗛𝗘 𝗦𝗔𝗠𝗘 𝗔𝗚𝗔𝗜𝗡

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March 2019
Autumnvale, England

TRIGGERWARNUNG: [Umgang mit] Trauer, Tod von geliebten Personen

K A R L O T T A

DIE LEISE TICKENDE Uhr an der Wand zeigte das sich nähernde Ende der Therapiesitzung an, während die Minuten sich wie Stunden zu ziehen schienen

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DIE LEISE TICKENDE Uhr an der Wand zeigte das sich nähernde Ende der Therapiesitzung an, während die Minuten sich wie Stunden zu ziehen schienen. Karls' Therapeutin sprach mittlerweile mit einem müden Unterton in ihrer Stimme - doch das Mädchen, das ihr gegenüber saß, konnte es Mrs. Halley kaum übel nehmen. Es war jeden Tag dasselbe. Nichts änderte sich. Alles blieb in diesem gleichen, dunkelgrauen Farbton - und wie in jeder Stunde verlor sich ihr Blick irgendwann im Nirgendwo.

»Karlotta, bitte hör' mir zu. Ich weiß, dass du einen schweren Verlust erfahren hast. Aber du fällst in ein Loch. Und wenn du nicht versuchst, dich zumindest festzuhalten, weiß ich nicht, ob ich dir helfen kann. Du musst auch kämpfen.«

Ohne eine Reaktion oder Antwort verklangen die Worte in der Luft und berührten sie kaum - zu oft hatte Karls diese Sätze schon gehört. Die stählernen Augen des Mädchens starrten ins Leere - ihre Ohren hatten die Stimme ihrer Therapeutin seit langem ausgeblendet. Ihre Gedanken umfing ein einziges Nichts, welches einfach nur das Chaos, das sonst in ihrem Kopf herrschte, vernebelte. War es traurig, dass sie sich beinahe darüber freute, dass sie nichts als Leere empfand? Wie viel Schmerz hatte sie wohl empfunden, dass ihr Gehirn ihre Gefühle nun abschaltete? Die Antwort auf diese Frage war wohl genug.

»Denke bitte zumindest darüber nach und wenn irgendwas passieren sollte oder es dir nicht gut geht, ruf' mich an.« Mrs. Halley's Blick lag auf ihr und suchten vergeblich nach Augenkontakt. Ihre Therapeutin wusste genau so wie Karls, dass das Mädchen sich nicht an diese Anweisung halten würde.

Mrs. Halley seufzte, als die tickende Uhr offiziel ihre Sitzung beendete. »Pass einfach auf dich auf, Karlotta.«

Karls schaffte es, ein halbherziges Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen, doch ihr fehlte die Kraft für eine verbale Antwort - es war fast, als könnte sie keine Worte mehr finden. Und so sehr das wehtat - in ihren Augen lag eine fast graue Monotonie, und niemand würde wohl jemals wissen, wie gefälscht und brüchig ihre Schutzmauer war.

• • •

Kaum zwanzig Minuten später saß Karls in einer völlig überfüllten Straßenbahn und hatte ihre Kopfhörer auf volle Lautstärke gestellt.

Ihr Blick schweifte über die verschiedenen Menschen - sie alle waren so unterschiedlich und doch so gleich. Ein blondes Mädchen Karls gegenüber, dessen Bein in einem unregelmäßigen Rhythmus auf- und abwippte. Ein rothaariger Junge, der sich im Minutentakt durch das Haar strich oder seinen Pullover gerade rückte. Ein älterer Mann in einem Anzug, der scheinbar verkrampft nach Abstand zu den vielen Menschen in der Bahn suchte.

Karls fiel es spielend leicht, verschiedene Angewohnheiten und Stimmungen zu identifizieren, was vermutlich an ihrem großen Interesse für Psychologie lag. Früher hatte sie ihre Zeit oft damit verbracht, still die Personen um sich herum zu beobachten. Mittlerweile war es ihr egal geworden; so vieles war ihr egal geworden.

Ihre Gedanken schwenkten automatisch zu ihrer Familie - sie hätte sich an den stechenden Schmerz, den die Erinnerung hervorrief, eigentlich schon längst gewöhnt haben sollen, schließlich lag der Brand beinahe vier Monate zurück. Doch es tat genau so weh wie am Tag, als sie im Krankenhaus aufgewacht war.

Vorwürfe, Selbsthass, Wünsche und erneut Vorwürfe wechselten sich wieder und wieder und wieder in ihrem Kopf ab.

Wieso hätte es nicht ein anderes Haus treffen können?
Ich wünschte, ich wäre auch nicht mehr hier.
Bitte kommt einfach zurück.
Wieso hätte der, der den Notruf gewählt hatte, nicht eher da sein können?

Die Splitter von Gedanken vermischten sich und dröhnten so sehr in ihrem Kopf, dass es wehtat.

Karls blinzelte, als ihre Augen zu brennen begannen. Im selben Moment traf ihr Blick den eines Mannes, der ihr mehrere Meter entfernt gegenüber stand. Seine dunklen, kalten Augen musterten sie, ein unablesbarer Blick lag in ihnen. Doch kaum zwei Sekunden später hielt die Straßenbahn an, die Türen öffneten sich und der schwarz gekleidete Mann verließ Karls' Blickfeld. Er kam ihr sonderlich bekannt vor, doch sie wusste nicht, woher.

Karls schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Musik. Laut drang i wanna be yours von Arctic Monkeys in ihre Ohren und übertönte das Chaos in Karls' Kopf. Zumindest für ein paar Minuten bedeuteten die Lieder ihrer Lieblingsplaylist Ruhe. Eine Ruhe, die Karls so sehr vermisste.

• • •

Das pastellgelbe Haus ihrer Tante wirkte wie ein Kontrast zu dem regnerischen Wetter der letzten Wochen und zu den grauen Farben der Umgebung. Wie ein gelber Fleck in der Dunkelheit, der aber wirkungslos war in der riesigen Menge von Grau.

Karls' Hand ruhte seit ungefähr zwei Minuten auf der Klinke der Tür - wie jeden Tag sträubte sich etwas in ihr, wenn sie wieder hierher kam, und Karls wollte nichts lieber, als wegzulaufen. Das Haus ihrer Tante mochte schön sein, aber es war nicht ihr Zuhause und würde es vermutlich auch nie sein.

Das Mädchen atmete einmal laut durch und öffnete die Tür, die mit einem leisen, willkommenden Quietschen aufging. Karls betrat das Haus und vermied den Blick in den Wandspiegel, der direkt hier im Eingang stand. Sie wusste ohnehin, was sie erwarten würde - die Müdigkeit und die gläserne Trauer in ihren Augen kannte Karls auswendig, als wären sie auf ihrer Seele geschrieben. Ihr blasses Gesicht war von Augenringen und abgebissenen Lippen geprägt. Ihren Hals zierte eine auffällige Brandnarbe, die Karls an etwas erinnerte, was sie am liebsten aus ihrem Gedächnis brennen würde.

Sie schob die Gedanken gezwungen zur Seite und zog ihre dunkelblaue Stickjacke aus, die genau so neu und ungewohnt war wie all ihre Klamotten. Dabei spürte sie den kalten Perlenanhänger, welcher an ihrem Hals hing und zu einer silbernen Kette gehörte - es war die Kette ihrer Mutter.

In diesem Moment ging die angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf und eine kleine Katze stürmte zu Karls. Diese kniete sich hin und begrüßte Pirate. Karls hatte sie nach dem Brand zu sich genommen, als die Feuerwehr Pirate im Garten gefunden hatte und sich kein Besitzer meldete.

»Karlotta, du bist wieder da.« August trat in den hellen Flur des Hauses und warf Karls ein sanftes Lächeln zu, das das Mädchen erwiderte. Ihre Tante war ein herzensguter Mensch und ja, sie hatte Glück, dass August sie ohne zu Zögern aufgenommen hatte. Doch trotzdem fühlte es sich nicht richtig an, egal wie viel Zeit verging.

August trat auf sie zu und schloss sie dann in eine kurze, warme Umarmung. »Wie war Therapie heute?«

»Es war schon mal schlimmer«, erwiderte Karls zögerlich. Sie dachte zurück an die ersten Therapiesitzungen. Sie hätte nie gedacht, dass es so weh tun würde, über ihre Gefühle zu sprechen - und früher fiel ihr das auch nicht gerade schwer.

Irgendwie hatte sich einfach alles geändert.

Irgendwie hatte sich einfach alles geändert

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𝗙𝗢𝗥𝗘𝗩𝗘𝗥 𝗬𝗢𝗨𝗡𝗚Where stories live. Discover now