𝟬𝟰 • 𝗔 𝗧𝗔𝗟𝗘 𝗔𝗦 𝗢𝗟𝗗 𝗔𝗦 𝗧𝗜𝗠𝗘: 𝗡𝗢 𝗢𝗡𝗘 𝗖𝗔𝗥𝗘𝗦

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March 2019
Autumnvale, England

C H A R L I E

HELLES SONNENLICHT flutete durch Jalousien, die von der Farbe her Beton ähnelten, und das leichte Gelbgold der Strahlen kontrastierte mit dem Stil des luxuriösen Einfamilienhauses

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HELLES SONNENLICHT flutete durch Jalousien, die von der Farbe her Beton ähnelten, und das leichte Gelbgold der Strahlen kontrastierte mit dem Stil des luxuriösen Einfamilienhauses. Generell war eigentlich das gesamte Haus auf eine gezwungene Art modern, grau, schwarz und weiß eingerichtet.

Ein Junge mit lockigem, warmbrauen Haar, das über seine Stirn und den Rand seiner Brille fiel, lief leise die blitzend weiße Treppe hinunter und steuerte die riesige, moderne Küche an. Er trug einen gelben, groß ausgefallenen Pullover, sowie eine weite, hellblaue Jeans und wirkte damit wie ein fröhlicher Farbfleck, der der Menge von Grau in diesem Haus mehr als gut tat. Nur der traurige Schatten auf Charlies blassem Gesicht schwächte dieses Bild.

Als er die Küche betrat, warf er einem älteren Jungen, der ihm unglaublich ähnlich sah und an einem modernen, dunkelgrauen Tisch saß, ein vorsichtiges Lächeln zu. Conner murmelte ein uninteressiertes »Morgen« und blickte direkt wieder auf sein Handy. Hätte er noch ein wenig länger zu Charlie gesehen, hätte er beobachten können, wie angespannt sein kleiner Bruder wirkte und dass seine Hände unter seinen langen Pulloverärmeln zitterten.

Mit einem tiefen, sich selbst beruhigenden Atemzug öffnete Charlie den glänzend weißen Küchenschrank und bereitete sich schließlich ein Frühstück vor. Wie fast jeden Morgen entstand keine Unterhaltung zwischen ihm und Connor - doch Charlie zog das Schweigen sowieso vor.

Als der Junge mit den lockigen Haaren gerade zum Esstisch laufen wollte, hörte Charlie leise, wie die Haustür aufging, und im nächsten Moment waren da stöckelnde Schritte. Noch bevor seine Eltern den Raum betraten, wusste er, dass Margot und James Clarke in förmlichen, perfekt sitzenden Anzügen gekleidet waren. Wenn sie mal da waren, war es nie für lange - und wie recht Charlie doch mit dieser Vermutung hatte.

Ihr Sohn begrüßte beide mit einem Lächeln, das verging, als er den gehetzten Gesichtsausdruck seiner Eltern sah.

»Charlie, gut, dass du wach bist«, sprach seine Mutter ihn an und zupfte an ihrem faltenlosen, dunkelgrauen Anzug, der wohl kein einziges Staubkörnchen an sich trug. »Wir haben ein Anliegen an dich.«

Über die Jahre hatte Charlie gelernt, zu ignorieren, dass seine Eltern mit ihm wie mit einem Angestellten sprachen. Er gewöhnte sich beinahe daran. Trotzdem jagte dem Jungen der Satz ein wenig Angst ein - aus seiner Erfahrung heraus bedeuteten diese Worte selten gutes.

»Wir möchten, dass du uns auf eine Geschäftsreise nach Italien begleitest«, übernahm James und blickte nur kurz zu Charlie. »Wir müssen ein anerkanntes Labor dort bei einer Studie unterstützen, und das wird sich vermutlich über drei Monate ziehen. Du könntest währenddessen nicht alleine hier bleiben.«

Eine Geschäftsreise nach Italien? Sie wollten, dass er sie begleitete? Charlie starrte auf den Boden - die Gedanken, die auf ihn einregneten, überforderten ihn und die Panik begann, in ihm zu arbeiten. Er konnte sich auf keinen Fall vorstellen, zu reisen. Alleine der Gedanke an volle Züge und an Plätze mit erdrückenden, unfassbar lauten Menschenmengen machte es schwieriger, zu atmen. Geschweige denn die unzähligen Möglichkeiten für ihn, zu zeigen, was für eine Enttäuschung er war - wie erbärmlich er war. Charlies Kopf begann zu schmerzen, seine Hände wurden feucht.

»Hast du überhaupt zugehört?« Er hörte ein genervtes Ausatmen. Der frustrierte Ton in der Stimme seiner Mutter schnitt Charlie ins Herz und ließ das Gift der Zweifel in die Kratzer fließen.

Charlie riss den Kopf hoch und sah seine Eltern an, versuchte, sich zusammenzureißen. »Ich kann nicht mitkommen. Ich muss zu viel für die Prüfungen lernen.«

Die Worte, die aus seinem Mund kamen, fühlten sich erzwungen und gelogen an. Er wollte einfach nur Ruhe in seinem Kopf.

»Außerdem ist Connor doch da, und hat gerade sogar Semesterferien«, warf der dunkelhaarige Junge ein zweites Argument ein, bevor seine Eltern etwas sagen konnten. »Ich werde ohnehin in zwei Wochen achtzehn.«

Charlie bezweifelte irgendwie, dass seine Eltern sich genug um ihn scherten, um sich Sorgen um sein Wohlbefinden zu machen. Das war zwar ziemlich ironisch, weil sie von Beruf Ärzte waren; aber es interessierte sie vermutlich wenig, ob Charlie allein zuhause klarkam. Margot und James Clarke interessierten sich für nichts anderes als ihr Geschäft - vermutlich sorgten sie sich eher darum, dass sie einen schlechten Eindruck machten, wenn sie ihr Kind alleine zuhause ließen.

Margot seufzte und sah zu James - doch dieser schien mehr oder weniger uninteressiert. »Dein Vater und ich werden uns noch mal darüber unterhalten. Ich denke aber, dass du hier bleiben kannst, wenn du das unbedingt willst.«

Es war fast so, wie Charlie es vorausgesagt hatte - es interessierte seine Eltern nicht wirklich. Das war wohl das einzig Gute: sie konnten nicht hinter seine Fassaden sehen und bemerkten nicht, dass Charlie sie aus völlig anderen Gründen nicht auf diese Geschäftsreise begleiten wollte. Würden sie es wissen, hätten sie sich wohl dennoch nicht wirklich um ihn gesorgt.

Bei diesem Gedanken spürte Charlie ein bitteres Gefühl, das einen unangenehmen Druck auf seiner Brust auslöste - seine Eltern scherten sich kein bisschen um ihn.

Doch er konnte sich nicht mal an eine Zeit erinnern, in der es anders gewesen war.

Doch er konnte sich nicht mal an eine Zeit erinnern, in der es anders gewesen war

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𝗙𝗢𝗥𝗘𝗩𝗘𝗥 𝗬𝗢𝗨𝗡𝗚Where stories live. Discover now