Kapitel 94

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Mit voller Wucht gab ich ihm eine Ohrfeige und er fiel auf den Boden. "Immer ruhig bleiben Götze", ermahnte er mich und stand wieder auf, worauf ich ihn am Kragen packte und nach draußen schleifte, wo ich schon Haller und Vogel erkennen konnte. Wie in Trance schleuderte ich ihn auf den Boden und trat nochmal mit voller Wucht mit dem rechten Bein gegen seine Rippe. "Mann verdammt du scheiß Aggro!", brüllte er mich an, doch konnte sich nicht wehren, weil er viel zu klein war. "Du drecks Möder!", schrie ich ihn an und schon packte ihn Haller von hinten und ich sank zusammen. "Er hat ihn umgebracht!", brüllte ich und fiel in Marcos Arme. "Das hat er nicht", flüsterte Marco, ging auf ihn zu und scheuerte ihm noch zusätzlich eine. Währenddessen sank ich zusammen. Ich dachte an Jenna und Jonas. Ich konnte ihr die Nachricht nicht überbringen, auch nicht meinen Brüdern und unseren Eltern. Ich dachte an Philipp und seine fröhliche Art und seinen Ehrgeiz, mein Abbild. Ich dachte an sein süßes Gesicht und seine Lebensfreude. "Wo ist er jetzt?", fragte ich benommen. "Geh ihn doch suchen!", brüllte der Mann und wenig später standen mehrere Polizeiwagen vor der Tür, die ihn abführten. Fassen konnte ich es noch nicht. Marco saß neben mir auf dem Autositz und hatte seinen Arm um mich gelegt. "Jenna wird sich umbringen", flüsterte ich unter Tränen. "Das wird sie nicht tun", entgegnete mein bester Freund, "sie hat doch dich". "Ich kann aber einfach nicht mehr", flüsterte ich und begann zu schreien: "Wieso werden mir immer die Kinder weggenommen! Wieso muss Jenna so ein schreckliches Leben haben, sie hat keine Mutter mehr und zwei Kinder hat sie auch verloren!" Marco sagte nichts, sondern nahm mich in den Arm. Sein Herz pochte wie verrückt. "Bruder ich bin immer für dich da", flüsterte er. "Mario wir haben im Haus einige Sachen von Philipp gefunden, willst du sie dir anschauen?", fragte Vogel. "Darf ich davor Jenna anrufen?", fragte ich schwach und holte mein Handy heraus. "Klar", nickte er und ging wieder zurück. Es tutete lange. Es war mir egal, ob es viel zu früh war. Ich hielt es nicht aus alleine zu leiden. Sie musste es wissen. "Mario wo bist du verdammt", zischte sie verschlafen in den Hörer. "Jenna", schluchzte ich und die Tränen rannten an meinen Wangen herunter. "Mario was ist los!", schrie sie. "Das Arschloch hat Philipp umgebracht", weinte ich und Marco legte mir von hinten die Hand auf den Rücken. Es herrschte Stille. "Was?", flüsterte sie, "sag mir, dass das nicht wahr ist". Ich konnte nichts sagen, die Tränen schnürten mir die Kehle zu. "Mario sag mir, dass das nur ein Traum ist", hämmerte sie und begann zu schreien, "das ist ein Traum!" "Jenna ich bin in Rotterdam, ich hab dem Typ in die Augen geschaut", versuchte ich ihr klarzumachen. "Mein Baby ist nicht tot!", brüllte sie und schrie vor Schmerz. "Jenna geh bitte zu Ann-Kathrin", schluchzte ich und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. "Er ist nicht tot", faselte sie vor sich her und auf einmal hörte ich einen dumpfen Schlag, vermutlich ihr Handy und dann nurnoch Schreie. "Sie ist am Ende", schüttelte ich den Kopf und ließ mich von Marco ins Haus schleifen. Dort standen seine Schultasche und seine Schuhe. Mit zittrigen Händen nahm ich die kleinen Schuhe und wollte sie mitnehmen. "Habt ihr sonst nichts mehr gefunden?", fragte ich und Haller schüttelte den Kopf: "Oben waren wir noch nicht". "Komm mit", meinte ich zu Marco und zog ihn die steile Treppe hinauf. Dort brannte noch Licht und ein Fernseher lief, zudem standen zwei Teller in der Küche auf dem Tisch. "Wieso stehen hier zwei Teller?", fragte Marco und schaute sich hinter allen Ecken um. "Der Typ ist krank", flüsterte ich, "völlig paranoid". "Mario verstehst du das nicht?", rief Marco und begann herumzurennen. "Philipp!", schrie er so laut es ging, immer und immer wieder. "Marco, hör auf", schrie ich, "er ist weg, wir können nichts mehr machen!" "Halt deine Fresse Mario!", brüllte er mich an und schrie weiter. Immer wieder seinen Namen. "Philipp!", er lief die Dachbodentreppe hinauf. Auf einmal crashte etwas leises meine Gedanken. "Papa!" "Reiß dich zusammen!", dachte ich mir. "Philipp!", "Papa!", ständig Schrie. "Mario hörst du das auch?", brüllte Marco vom Dachboden aus. "Das ist Einbildung!", schluchzte ich und stützte mich auf der Couch ab. "Mama!", wieder. Das konnte kein Zufall sein. "Mama", immer wieder. Ich folgte den Rufen und wurde in eine kleine Kammer am Ende des Ganges geführt. "Philipp?", fragte ich jetzt etwas lauter. "Papa ich bin hier!", brüllte er mit einer schwachen Stimme. Er war es tatsächlich. Die Tür war abgeschlossen. Ohne lange zu Fackeln trat ich dagegen und mit einem Lauten Krach fiel sie aus der Halterung. Der Raum war kalt und dort stand nur ein einziger Schrank. "Ich bin hier drin!", schrie er und hämmerte gegen die Schranktür. Mit zitternden Händen öffnete ich das Schloss. "Papa", weinte Philipp. "Philipp", keuchte ich und riss die Tür auf. Er saß auf dem Schrankboden und schaute zu mir hoch. Bei seinem Anblick bekam ich Angst. Sein Deutschlandtrikot war dreckig und sein Gesicht bestand nurnoch aus zwei Kieferknochen. "Papa", schrie er und reckte seine Arme zu mir nach oben. Ich konnte es nicht fassen und begann wieder zu weinen. Ich hob ihn auf meine Arme und presste ihn an meine Brust. "Ich hab so Angst", zitterte er und krallte sich in meinen Rücken. "Es ist alles gut, der Typ is festgenommen", beruhigte ich ihn und lief in den Flur. "Marco ich hab ihn!", brüllte ich und setzte mich auf die Treppe. Mein Sohn klammerte sich an meinen Hals und weinte. "Du bist in Sicherheit", flüsterte ich ihm zu und hielt ihn ganz fest. "Gott sei Dank", hörte ich Marco hinter mir sagen und wenig später lief er neben mir die Treppe hinunter. Philipp wollte in diesem Moment nur mich sehen. "Wir fahren jetzt nach Hause", flüsterte ich und trug ihn nach unten zum Auto. Marco hatte den Beamten schon längst die Situation geschildert und deswegen ließen sie uns erstmal in Frieden. Marco setzte sich ans Steuer und ich mit Philipp auf die Rückbank. Er legte seinen Kopf in meinen Schoß und legte sich auf die Rückbank und schlief ein. Ich fuhr ihm durch seine zerzausten Haare und schaute ihm beim Schlafen zu. "Er wird ein Trauma bis an sein Lebensende haben", redete Marco vor sich her. "Lieber ein Trauma als tot", flüsterte ich und darauf war er still. Wir fuhren ohne Pause zu machen. "Mario ich muss dir auch noch was beichten", begann Marco auf einmal. Ich wusste genau was jetzt kam. "Ich weiß was du sagen willst", winkte ich gleich ab, "ich hoffe dir ist klar, dass ich dich zusammenschlagen würde, wenn wir in einer anderen Situation wären". "Ich kann doch auch nichts dafür", flüsterte er. "Wegen dir hat mein Bruder sein Kind verloren", redete ich weiter und schaute aus dem Fenster. "Mario das ist Schwachsinn!", keifte er, "sie hätte es für mich niemals abtreiben müssen!" "Dir ist aber trotzdem klar, dass mein Bruder dich für immer hassen wird dafür", schnaufte ich. "Glaub mir, damit hab ich mich schon längst abgefunden", antwortete er. "Oh Gott ist das dreist", redete ich vor mich her. "Ich kann doch auch nichts für meine Gefühle", jammerte er. "Ich kann doch auch nichts für meine Gefühle", äffte ich ihn wie ein Zehnjähriger nach. "Halt die Fresse Götze", lachte Marco, "nur weil du die Love of your life schon gefunden hast". "Na wenn sie die Liebe deines Lebens ist", grinste ich und klopfte ihm auf die Schulter, "macht was ihr wollt, ich bin raus für die nächsten Wochen und fahr mal schneller du Schnecke". Marco gurkte auf den Autobahnen rum, dass es schon fast nicht mehr schön war. Auf meine Anweisung gab er Vollgaß. "Alter Baby hat das Ding Feuer!", jubelte er. "Meine Frau hat eben Geschmack was Autos angeht", meinte ich und streichelte Philipp über den Kopf. Er schlief tief und fest und nichtmal Marcos Jubelschreie konnten ihn aus der Ruhe bringen. "Danke übrigens, dass du die ganze Zeit hier warst", meinte ich, als wir fast am Ziel waren. "Wie gesagt Bruder, du bist und bleibst der Wichtigste", grinste er durch den Rückspiegel. "Ihr seid so scheiße peinlich", meldete sich auf einmal Philipp mit ins Gespräch. "Ruhe da unten Little Götze", schimpfte Marco. "Sehr nett Pate", entgegnete Philipp und richtete sich auf. "Wie gehts dir?", fragte ich. Er kratzte sich am Kopf und schaute mich verschlafen an: "Ich hab gedacht ich muss sterben". Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und er schaute mich nur mit großen Augen an. "Heißt das ganz Deutschland kennt mich jetzt?", fragte er verwirrt. "Ganz Bayern auf jeden Fall", nickte ich und legte meinen Arm um ihn. Inzwischen ging es auf Mittag zu und wir erreichten bald unsere Heimat. "Papa", meinte er auf einmal leise und schaute zu mir hoch. "Was ist denn los Kumpel?", fragte ich und umklammerte ihn fest. "Ich musste weinen, weil ich euch vermisst hab", flüsterte er, "bin ich jetzt ein Weichei?" "Philipp es wäre schlimm gewesen, wenn du nicht geweint hättest", entgegnete ich und gab ihm einen Kuss auf seine Haare. "Hast du auch geweint?", wollte er wissen. "Wir haben alle geweint", antwortete Marco für mich. "Dann ist ja gut", meinte er leise und schaute aus dem Fenster. Als wir in unsere Straße einbogen bekam ich einen Schreck. "Mario hast du Jenna Bescheid gesagt?", fragte Marco und blieb vor unserem Haus stehen. Ich schüttelte nur gedankenverloren den Kopf und öffnete die Tür. Philipp stieg auf der anderen Seite aus und nahm Marcos Hand, der auf die Haustür zusteuerte. Von hinten sahen sie aus wie Onkel und Neffe, die gerade von einem Match auf einem verdreckten Sportplatz wieder kamen, doch was tatsächlich passiert war wusste nur Philipp. Nachdem ich seinen Schulranzen genommen hatte überholte ich sie und schloss die Tür auf. Im Haus war es komplett still. Nur hinter mir hörte ich, wie Marco Philipp auf den Arm nahm. Als ich die Wohnungstür aufsperrte konnte ich jedoch direkt meine Frau schreien hören. "Jenna Mario ist bestimmt gleich da", hörte ich Annis Beruhigungsversuche. "Ich kann nicht mehr!", schrie Jenna. So wie es aussah waren sie im Wohnzimmer. "Schau mal er ist da", flüsterte sie, als ich in der Tür stand. "Baby", flüsterte Jenna, obwohl sie mich noch nicht gesehen hatte und rannte auf mich zu. "Wieso immer wir", schrie sie und krallte ihre Hände in mein T-Shirt. "Jenna mach mal halblang", flüsterte ich und drückte sie sanft von mir weg. Im Hintergrund konnte ich schon Marco reden hören. "Mama!", hörte ich Philipps zartes Stimmchen. Jenna schaute an mir vorbei und riss die Augen auf. "Mein Baby", heulte sie und lief auf ihn zu um ihn mit voller Wucht zu umarmen. Philipp begann auch zu schluchzen. "Du bist es wirklich", schrie sie und ließ ihn nicht mehr los. "Mama ich bin nicht weggelaufen", versuchte er sich zu entschuldigen. "Das ist egal, du bist wieder hier", schluchzte sie und nahm ihn auf den Arm. "Ich hab dich so vermisst", weinte mein Sohn und fiel ihr nochmal
um den Hals. "Du bist so ein tapferer Sohn", schniefte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Wir hatten es geschafft. Jenna war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich die glücklichste Mutter auf der Welt und Philipp endlich in Sicherheit.

Love never runs out (Mario Götze FF - ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt