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Prolog

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Die Stadt schläft.

Nur vereinzelt blitzen Lichter durch das alles verschluckende Schwarz der Nacht. Selbst der Himmel mit seinen unzähligen Sternen scheint heute trüb und einsam zu sein. Über den Häusern liegt eine bedrohliche, dennoch behagliche Ruhe. Der Wind rauscht durch die Gassen, rüttelt an Fensterläden und säuselt den raren Nachtgängern liebliche Melodien der Dunkelheit in die Ohren.

In einem Gebäude, etwas entfernt vom Zentrum der Stadt, brennen mehrere Lichter. Selbst von draußen kann man erahnen, dass hinter der Fassade nicht alle schlafen. Große, grelle, rote Leuchtbuchstaben zieren den Eingang des St. Anne–Krankenhauses, weiße Leuchtschilder weisen den Weg zur Nachtaufnahme. Der Haupteingang ist verschlossen, der etwas festere Portier in seiner kleinen Loge ist eingenickt. Selbst durch die Glastüren kann sie sein Schnarchen hören.

Ihr Schatten zeichnet sich dunkel auf dem Betonboden ab und für einen Moment bleibt sie stehen, wundert sich. Der Schatten gehört nicht ihr. Sie ist ein schattenloses Wesen, eine Person ohne Gestalt, eine Kreatur ohne Herzschlag.

Der Schatten gehört dem Menschenmädchen. Doch in dieser Nacht ist sie die Herrin über den Körper, beherrscht ihr Bewusstsein, bestimmt ihre Taten. Die Handlungen des Mädchens, dessen Körper sie sich mit ihrer Schwester teilt. Ihrer guten Schwester.

Beim Gedanken an sie verzieht das dunkle Mädchen das Gesicht. Ihre gute Schwester, die nur tötet, um zu erlösen. Immer brav und ordentlich und gewissenhaft. Die letzten zwei Wochen hatten ihrer Schwester gehört. Sie erledigte ihre Aufgabe, erfüllte die Notwendigkeit ihres Daseins.

Jetzt ist sie an der Reihe. Endlich hat sich ihr die Möglichkeit geboten, selbst aktiv zu werden. Diese Nacht ist für sie bestimmt, nur für sie alleine. Die Nacht ist dazu da, sie zu erfreuen, ihr Glück zu schenken, sich daran zu laben. In wenigen Stunden würde sie wieder verschwinden, würde wieder nur ein Schattengespenst im Geist des Menschenmädchens sein.

Zuvor ist ihre Zeit. Und sie würde sich amüsieren.

Ganz leise ist der Ruf zu vernehmen. So leise, dass sie ihn zuerst beinahe überhört hätte. Er muss mehrere Stunden alt sein, dieser Ruf nach ihr.
Langsam umrundet sie das Gebäude, bis sie vor der offenen Türe der Nachtaufnahme steht. Ohne zu zögern, tritt sie ein und folgt dem Flur bis zum Treppenhaus. Der Gang ist seltsam kühl, doch sie spürt deutlich, wohin sie gehen muss. Sie folgt der Stimme. Folgt ihrem Namen, den er vor gar nicht allzu langer Zeit rief, unwissentlich.
Ihre Füße tragen sie weiter, immer weiter, bis sie im 3. Stock vor einer Tür mit der Nummer 345 steht. Ihre Hände berühren die Tür, welche aufschwingt und sie betritt den Raum.
Im Krankenhauszimmer ist es dunkel, nur das helle Licht des Mondes und die blinkenden Geräte neben dem Bett des Mannes spenden ein wenig Helligkeit. Das Gerät, welches seinen Herzschlag überwacht, piepst. Regelmäßig. Piep, piep, piep.

Sie atmet tief durch, wirft einen kurzen Blick auf den Mann und sieht aus dem offenen Fenster hinaus in die Nacht. Im Mondlicht kann man die zarten, jungen Züge ihres Gesichts erahnen. Es ist das Antlitz des Menschenmädchens, dessen Körper sie steuert, die sie heute Nacht wieder ist. Sie kann nicht älter als achtzehn sein. Ihre Augen sind dunkel und schimmern geheimnisvoll im Licht des Mondes, ihre Kinnpartie ist ausgeprägt und spitz zulaufend, ihre Nase gerade und stolz. Ihr Haar, schwarz wie die Nacht, flattert im Wind.

Dann, plötzlich, als hätte sie etwas gerufen, seufzt sie laut auf und wendet sich dem Bett zu. Mit schlafwandlerischer Sicherheit steigt sie über die Dutzende von Kabeln am Boden, in ihren Bewegungen liegt eine überirdische Eleganz.
Langsam nähert sie sich dem schlafenden Mann. Ihr Blick wandert zu der Maschine, die gleichmäßig piept, dann zu der kleinen Kamera in der Ecke des Zimmers. Sie lächelt – sie weiß genau, dass keine Technik der Welt sie filmen kann. So viele haben das schon versucht, haben versucht, die Gründe des abrupten Ablebens herauszufinden. Haben versucht, die Geschöpfe der Nacht zu entlarven.
Wir sind hier, um eure Welt zu steuern, denkt das dunkle Mädchen. Verborgen unter euch leben und dienen wir. Sie schüttelt den Kopf. Nicht alle dienen. Nur die, die dienen wollen. Ich, sie lächelt, ich will nicht dienen. 

Der Mann liegt friedlich auf seinem Kopfpolster, einen Arm über der Decke, einen darunter, als wüsste er nicht, ob er Schutz bräuchte oder nicht. Seine Augen sind geschlossen. Das dunkle Mädchen betrachtet sein Gesicht. Es ist ein gutes Gesicht, freundlich, jung. Dunkelbraune Bartstoppeln bedecken sein Kinn, sein Atem geht ihm regelmäßig über die Lippen.
Sie lächelt, ein schönes Lächeln, in welchem aber eine seltsame Unternote mitschwingt. Ihm ist eigentlich noch ein langes Leben vorherbestimmt, er hat seine Operation gut überstanden. Und doch - ... und doch gab es da einen Augenblick, einen Moment, in dem er nach ihr rief. So zaghaft, dass weder ihre Schwester noch andere auf seine Stimme aufmerksam wurden. Sie grinst. Denn sie hatte seinen Ruf vernommen.
Sie freut sich auf das Bevorstehende. Diejenigen, die sterben mussten, weil es endgültig für sie an der Zeit war, deren Stimmen laut und kraftvoll waren, waren für ihre gute Schwester bestimmt. Sie begnügte sich damit. Sollte sie.
Die dunkle Schwester jedoch verlangte es nach mehr – mehr Opfer, junge Opfer, deren Leben noch vor ihnen stand. Sie brauchte es – es war wie ein Lebenselixier.

Vorsichtig nähert sich ihr Finger seiner Wange und streicht einmal zärtlich darüber, über die straffe Haut. Sie mag es, wenn sie es hinauszögern und einen Moment länger auskosten kann. Es scheint fast so, als würde er sich unter ihrer Berührung entspannen. Die Falten um seine Augen werden weicher, das Überwachungsgerät stockt für einen Wimpernschlag, geht jedoch sofort wieder weiter.

Sein Herz schlägt noch, sein gesundes, kräftiges Herz.
Die letzten Herzschläge.

Er muss nicht sterben.
Sein Körper ist stark.
Doch das ist ihr egal.

Denn für einen Sekundenbruchteil hatte sie seinen Ruf vernommen. Und das reichte ihr.

Das Mädchen beugt sich über ihn und küsst ihn zart auf die Lippen. Das Piepsen stockt, bis es schließlich in einen langgezogenen Ton übergeht. Ein letztes Mal berührt das Mädchen seine Wange und murmelt etwas.
Irgendwo im Krankenhaus werden jetzt wahrscheinlich gerade die Schwestern informiert. Doch all das stört das Mädchen nicht.

Sie lächelt und in ihrem Gesicht kann man pures Glück sehen. Ein wenig sehnsüchtig betrachtet sie den jungen Mann, dem sie den Tod gebracht hat. Schade, dass es so schnell wieder vorbei ist – dieser eine kurze, glückliche Augenblick.

Dann verschwindet sie in der Dunkelheit der Nacht.

Schwarz wie die NachtWhere stories live. Discover now