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4. Ava (1)

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Betroffen mache ich einen Schritt auf sie zu und strecke zaghaft eine Hand nach ihr aus.

„Entschuldigung, alles in Ordnung mit dir? Das wollte ich nicht, wirklich ...", meine ich peinlich berührt.
Ava richtet ihren Blick auf mich, mustert mich kurz eingehend und bricht dann in schallendes Gelächter aus. „Nein, nein ...", bringt sie zwischen zwei Lachern heraus. „Alles okay, nichts passiert. Ich bin nur etwas erschrocken. Du hättest aber auch klopfen können."

„Ja, stimmt, hätte ich", grinse ich verlegen, froh darüber, dass sie den Vorfall so gelassen nimmt. Ava greift nach meiner Hand und ich helfe ihr auf.

„Du bist Neela, richtig?"

„Ja."

Sie lächelt und ihre grauen Augen strahlen. „Ich habe mir schon so lange jemanden gewünscht, der wieder mit mir die Zimmer teilt. Ich war zu lange alleine. Du weißt ja gar nicht, wie langweilig das ist. Da ist man auf einem Internat, und trotzdem alleine! Niemand, mit dem ich die ganze Nacht quatschen kann. Niemand, mit dem man den ganzen Blödsinn machen kann."

Sie sieht mich entschuldigend an, grinst und schlingt spontan die Arme um mich. Überrumpelt von der freundlichen Geste versteife ich mich kurz, lasse sie jedoch gewähren.

„Sorry, aber meine Gefühle gehen gerade mit mir durch. Seit Anja mir vor ein paar Tagen gesagt hat, dass ich eine neue Mitbewohnerin bekomme, kann ich nicht mehr ruhig sitzen. Die anderen regen sich schon die ganze Zeit auf. Ich gehe ihnen meine meiner Aufgeregtheit auf die Nerven." Sie betont die letzten Worte ausführlich und deutet ein Augenrollen an. „Naja. Übrigens, ich liebe dein Kleid." Sie weist auf das dunkelblaue Kleid, das ich neulich erst gekauft habe. „Das steht dir echt gut. Ich wünschte, ich hätte so eine Figur wie du ... was ist denn dein Sternzeichen? Ich bin Waage, ich finde, es passt zu mir, ich bin meistens ausgeglichen und mit mir im Reinen und eigentlich glaube ich nicht an das ganze Esoterik-Zeug, aber manchmal scheint es doch zu stimmen und dann ist es wichtig, dass du ... sorry, tut mir leid, ich rede wieder zu viel, ich weiß, ich weiß", meint sie, als sie meinen Blick bemerkt. Ich schüttle den Kopf, lächle über ihren plötzlichen Wortschwall. Dieses Mädchen ist mir irgendwie von Anfang an sympathisch mit ihrer aufgedrehten Art.

„Ahm, ich glaube, ich bin Skorpion."

„Du glaubst? Wieso weißt du das denn nicht? Und dein Aszendent? Und Deszendent?" Verwirrt schüttle ich nur den Kopf, während Ava lacht und auf ein Sternzeichenposter am anderen Ende des Zimmers zeigt. „Das werden wir noch herausfinden. Ist auch nicht so wichtig. Wir machen einfach mal eine gemeinsame Session mit Räucherstäbchen und Yoga und begeben uns auf die Suche nach deinem Deszendenten – aber jetzt zeige ich dir mal dein Zimmer. Es ist zwar nicht anders als meines, aber es ist deines."

Ihre herbstfarbenen Haare wippen, während sie mich übermütig die paar Schritte zur einzigen Tür zieht, die ich noch nicht geöffnet habe.

Das Zimmer ist genauso, wie Ava gesagt hat. In einer Ecke steht ein Bett, ein Schreibtisch, ein Regal und einen riesigen Kasten gibt es auch noch. An der kurzen Seite befindet sich ein Fenster, auf der langen zwei. Unser Wohntrakt befindet sich genau am Ende des L's. Durch das Fenster auf der Längsseite kann ich über den ganzen Wald sehen, der sich ewig weit erstreckt. Die anderen gehen in den Innenhof hinaus.

„Na, was sagst du? Ist doch toll, oder? Wir haben mit Abstand die schönsten Zimmer in diesem Stockwerk, mit so vielen Fenstern." Ava stellt sich neben mich. Ich öffne das dem Wald zugewandte Fenster und blicke hinunter in die Tiefe.

„Da geht es hinunter, nicht? Da sollte man nicht herumklettern", meint Ava. Ich nicke.

Weit und breit gibt es keine Regenrinnen oder Feuerleiter, um hinauszukommen. Vielleicht komme ich dann in der Nacht gar nicht hinaus und muss mir keine Sorgen um meine Blackouts machen.

„Aber echt schön, der Ausblick, was sagst du? Gefällt es dir?", unterbricht Ava meine Gedanken. Ich nicke. „Ja, das Zimmer ist wirklich schön." Bis auf das ich hier unwissentlich sterben könnte, denke ich. Ava sieht mich aus ihren hellgrauen Augen seltsam an.

„Es gefällt mir; es ist besser, als ich es mir vorgestellt hätte", wiederhole ich. Damit gibt sich meine Mitbewohnerin anscheinend zufrieden, denn sie meint: „Warte nur ab, ganz St. Canice ist besser, als du es dir wahrscheinlich vorgestellt hast. Komm, lass uns mal deinen Koffer holen."

Gemeinsam schleppen wir den Koffer in mein Zimmer und ich beginne auszupacken. Ava sitzt daneben, beobachtet mich und kommentiert den Inhalt. Irgendwann, als ich gerade ein T-Shirt in den Schrank lege, sehe ich, dass Ava etwas in der Hand hat. Es ist unverkennbar mein Notizheft, das dünne Heftchen würde ich überall erkennen. Sofort reagiere ich.

„Hey, was machst du denn da! Das gehört mir!" Mit drei Schritten bin ich bei Ava und reiße ihr es aus der Hand.

„Sachte!", protestiert Ava. „Ich wollte doch nur schauen. Ich habe es nicht mal geöffnet", beteuert sie. Ich lege das Heft auf den Schreibtisch, außer Reichweite ihrer Finger. „Okay, Entschuldigung. Ich war nur neugierig auf dich. Ich hatte so lange keine Zimmerbewohnerin mehr, da muss ich doch jetzt alles über dich erfahren."

Ich seufze. „Alles? Jetzt sofort? Das könnte schwierig werden."

„Immerhin weiß ich schon, dass dein Sternzeichen Skorpion ist, aber du keine Ahnung von deinen Aszendenten und Deszendenten hast, du Neela heißt und recht schweigsam bist – das könnte vielleicht aber auch daran liegen, dass ich immer so viel rede. Ich weiß, dass du wahnsinnig tolle Haare hast und ich dich um deine Größe beneide. Ich meine, was soll ich da mit meinen 1,57cm im Vergleich?" Sie grinst. „Ich weiß, dass du nett bist, jedoch ein wenig schüchtern." Ich verstaue das letzte T-Shirt im Kasten. „Was muss ich über dich wissen? Irgendwelche Besonderheiten, irgendwelche Eigenheiten? Wie heißt deine beste Freundin? Warum bist du hier? Hast du einen Freund?"

Ava holt tief Luft, um erneut zu beginnen, da unterbreche ich sie. „Warte, warte, ich komme gar nicht mit. Also besonders ist an mir gar nichts." Bis auf meine nächtlichen Blackouts – davon musst du aber nichts wissen. „Ich bin wohl ziemlich durchschnittlich. Normal. Ich bin hier, weil ... weil meine Eltern das wollten. Ich war an meiner alten Schule nicht besonders gut."

„Du wirkst nicht wie jemand, der nicht gut in der Schule ist", wirft Ava ein. „Das ist komisch."

Ich wiege den Kopf. „Ja ... es war nicht der Stoff, der meine schlechten Noten verursacht hat, sondern mein Umfeld. Meine Mitschüler, meine Lehrer. Sie mochten mich alle nicht besonders." Es ist seltsam, dass ich ihr, einem Mädchen, das ich noch nicht einmal eine halbe Stunde lang kenne, von meiner wahren Situation erzähle. Meine Eltern haben immer den Fehler bei mir gesucht, immer war ich die Schuldige, nie die anderen.

„Was war mit deinen Freunden? Haben die nicht zu dir gehalten?"

Ich schlucke und räuspere mich. „Ich ... ich hatte keine Freunde."

Avas Augen werden groß, für einen Moment verstummt selbst sie. „Wie meinst du das? Meinst du, du hattest keine Freunde? Nie jemanden, mit dem du reden konntest, nie jemanden, mit dem du in der Stunde heimlich Nachrichten getauscht hast, keine Leute, mit denen du am Abend weggehst?", fragt sie ungläubig. Ich nicke und merke, wie schwer mir das fällt. „Wow. Das hätte ich nie gedacht. Dabei bist du doch so sympathisch und hübsch ... nicht mal einen Jungen? Hast du einen Freund?"

Erneut schüttle ich den Kopf und wende mich wieder meinem Koffer zu.

„Na dann, okay, das müssen wir schleunigst ändern, Neela. Es war wohl doch gut, dass du jetzt auf St. Canice bist. Hier wimmelt es nur so von netten Leuten und süßen Burschen. Ich glaube, die Sterne haben es doch noch gut mit dir gemeint." Ich grinse schwach und lege das letzte Kleidungsstück in den Kasten. „Bist du fertig? Dann machen wir uns einmal hübsch und statten den anderen im Gemeinschaftsraum einen Besuch ab. Es wird Zeit, dass du Leute kennenlernst."

Schwarz wie die NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt