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3. Willkommen in St. Canice

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Montagmorgen.

Meine Eltern warten.

Ich schleppe den schweren, braunen Koffer durch den Garten und hieve ihn umständlich ins Auto. „Los geht's", meint meine Mutter, sobald ich auf der Rückbank sitze. Ihre Stimmung scheint phänomenal heute Morgen zu sein, als würde sie, statt ich, auf eine große Reise gehen. Ich ignoriere sie und stöpsle Musik in meine Ohren. Sanfte Klänge ertönen in meinem Körper und ich krame eines meiner Notizhefte aus meiner Tasche. Es ist schlicht, brauner Umschlag aus Karton, linierte Seiten befinden sich darinnen. Es ist gefüllt mit Stichworten, Erinnerungen an Blackouts, Gedankenskizzen. Ich habe kein Bedürfnis, jeden Tag etwas aufzuschreiben, doch oft tut mir das Schreiben gut. Mein Kuli gleitet wie von selbst über die Zeilen.

Donnerstags habe ich versucht, meine Eltern umzustimmen, habe alles Menschenmögliche ausprobiert, um die Entscheidung rückgängig zu machen. Es hat nichts bewirkt. Ihre Entscheidung steht fest. Ich habe kein Mitspracherecht.

Am Freitag musste ich ganz normal zur Schule gehen – komischerweise haben mir die Kommentare gar nichts ausgemacht. Ich dachte sogar kurz, ich würde lieber mein ganzes Leben umringt von diesen Leuten, die mich hassen verbringen, anstatt in die Fremde zu gehen, um die aufs Neue die Außenseiterin zu werden.

Keinem meiner Mitschüler habe ich von meinem Schulwechsel erzählt. Es würde sowieso niemanden interessieren.

Am Gang sah ich Leon mit seiner blonden Freundin und für einen Moment schien mir, als würde er mich ansehen. Aber inzwischen denke ich, dass ich es mir nur eingebildet habe. Leb wohl, Leon, leb wohl, der Traum eines normalen Lebens.

Samstagvormittag machte ich eine kleine Shoppingtour. Im Schlussverkauf konnte ich ein paar schöne Sachen erstehen, doch alleine shoppen zu gehen und Freundesgruppen bei den Kabinen zu sehen, welche sich gegenseitig einkleideten und Spaß hatten, verdarb mir meine die Freude über die neuen Outfits.

Samstagnacht wanderte ich wieder. Es war nicht weit, ich erwachte in der Näher meiner Schule. Oder besser gesagt: ehemalige Schule.

Sonntag blieb ich zu Hause.

Jetzt sitze ich hier und schaue aus dem Fenster. Je mehr Kilometer auf dem Kilometerzähler des Autos dazukommen, desto nervöser werde ich. Leben in einem Internat ...

Eigentlich finde ich die Idee eines Internats gar nicht so schlimm. Keine Eltern, viele Gleichaltrige um einen herum, ein geregelter Alltag ... Wäre ich nur nicht in der Situation, in der ich bin.

Wie soll ich meine Blackouts verbergen, meine nächtlichen Wanderungen, wenn ich mit jemanden ein Zimmer teilen muss? Ich sehe jetzt schon vor mir, wie ich ausgelacht und bloßgestellt werde, wie sie alle mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: „Schaut, das ist die Verrückte, die ihren Körper nicht beherrscht!".

Ein neuer Albtraum. Wie soll ich das überstehen? Wie soll ich mich verstecken?

Hinzu kommt der Ruf des St. Canice-Internats. Ein reines Oberstufeninternat, vier Jahrgänge. Dort würden nur entweder aufgeblasene Volltrotteln oder absolute Loser hingehen. Snobs aus dem Hause reicher Eltern und solche, die sich für das genaue Gegenteil hielten.

Das Internat liegt 280 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt – und noch dazu irgendwo auf dem Land. In der Nähe gibt es nur die spärlich besiedelte Stadt St. Canice. Angeblich gibt es nicht einmal eine Verbindung vom Internat in die Stadt, wenn Kommentaren im Internet Vertrauen zu schenken ist. Ich seufze. Die nächste Großstadt ist Laville, über eine Stunde Autofahrt entfernt. Ich werde wohl abgeschnitten und einsam sein.

Zweieinhalb Stunden später sind wir da. Schon während wir durch das schwere Eisentor fahren, erkenne ich, wie groß das Canice-Internat ist.

Mein Blick fällt auf die angelaufenen Gitterstäbe und den alten Stein und mein Nacken beginnt zu kribbeln. Mit der Hand streiche ich darüber, versuche, das unangenehme Gefühl loszuwerden, welches mich plötzlich überkommt.

Schwarz wie die NachtOù les histoires vivent. Découvrez maintenant