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1. Nächtliche Wanderungen (1)

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Das erste, was ich fühle, ist der kurze Moment der Glückseligkeit, der mich immer kurz vorm Aufwachen überkommt.

Das zweite, was ich fühle, ist die Panik, dass es wieder passiert ist.

Das dritte, was ich fühle, als ich endgültig wieder zu mir kommen, ist der reißende Wind in meinen Haaren.

Meine Augen sind geschlossen – ich will sie nicht aufmachen, ich will sie nicht aufmachen.
Ich will nicht wissen, dass es wieder passiert ist und wo ich wieder gelandet bin und dass es wieder passieren wird und es nicht das letzte Mal war. Ich will nicht der brutalen Realität ins Gesicht blicken müssen. Die Realität, in der ich weiß, dass es wohl nie ein Entkommen gibt.

Dass ich immer so ein Freak sein werde.

Dann öffne ich sie doch. Ich muss ja, dass weiß ich genau. Mir bleibt nichts anderes übrig. Meine Lider heben sich und mir gefriert das Blut in den Adern. Ich erstarre, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, zu denken, unfähig, irgendetwas zu tun. Ich sitze an der Kante eines Daches, meine Beine baumeln hinunter ... hinunter ins Nichts.

Tausende Meilen entfernt erkenne ich kleine Autos, die wie Spielzeugautos aussehen, rot, gelb, schwarz. Eigentlich sind alle eher schwarz – selbst durch die Beleuchtung der Straßenlaterne meilenweit entfernt erscheinen sie dunkel.

Ich schlucke und versuche, klar zu denken, mich nicht zu bewegen, nicht in Panik zu geraten. Was mir nicht ganz gelingt, schließlich sitze ich am Dach eines Hochhauses und der peitschende Wind droht, mich mitzureißen. Zitternd taste ich hinter mich, um mich zu vergewissern, dass da wirklich das Dach ist und es nicht ebenfalls in die Tiefe geht. Doch, Gott sei Dank berühre ich eine gerade Fläche. Meine Finger streichen über die Oberfläche, versuchen, etwas zu finden, an dem sie sich festhalten können, irgendetwas. Aber es ist spiegelglatt.

Mit einem raschen Blick, bei dem mir schwindelig wird, kontrolliere ich den Bereich hinter mir. Es sind mehrere Meter, bevor das Dach auf der anderen Seite erneut  endet. Ich verkrampfe mich und versuche, nicht daran zu denken, wie tief ich bei einer falschen Bewegung fallen könnte. Nicht daran denken, nicht daran denken, nur zurückrutschen, einfach zurück, weg von der Kante, ganz langsam ...
Zentimeter für Zentimeter, dann, endlich, spüren meine Füße den Boden unter den Sohlen.

Wankend lege ich mich hin, sinke zurück, den Kopf gen Himmel gerichtet. Versuche, meine zittrigen Beine und mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Ich schlucke schwer und warte darauf, dass sich meine Atmung beruhigt und mein Körper wieder voll und ganz mir gehört. Meine Augen beginnen die blassen Sterne zu zählen.

Bei vierzig angekommen setze ich mich wieder auf. Der Schock ist fast weg aber – aber das war echt das Krasseste, was mir je passiert ist. Und mir ist schon viel passiert.

Der Wind schlägt um mich und ich versuche herauszufinden, wo ich bin. Ich sitze auf dem Dach eines Hochhauses – um mich herum erkenne ich weitere Hochhäuser. Als ich mich umdrehe, kann ich den roten Schriftzug auf einem ein paar Straßen weiter lesen.

St. Anne-Krankenhaus.

Gut, dann weiß ich zumindest ungefähr, wo ich bin. Nur wie komme ich wieder runter? Oder, andere Frage, wie bin ich hier überhaupt heraufgekommen? Ich erschaudere. Darüber will ich gar keinen Gedanken verlieren. Aber wenn ich hinaufgekommen bin, dann muss es doch einen Weg hinunter geben, oder?

Die Kante des Daches zieht mich in ihren Bann, springen, flüstert eine fiese Stimme in mein inneres Ohr und ich verbanne sie so schnell wie möglich aus meinem Kopf. Ich muss rational denken, nicht verzweifeln.

Meine Augen suchen das Dach ab – es ist groß und glatt, immer wieder kann man aber eine Unebenheit sehen. Hoffnungsvoll rutsche ich zu einer hin, um sie zu untersuche – es ist tatsächlich eine Luke – allerdings ist sie so fest von innen verschlossen, dass ich aufgebe und mich sitzend zur nächsten weiter ziehe. Bei der ist es genau wie bei der ersten. Versuchshalber um nicht zu verzweifeln, noch immer positiv gestimmt, probiere ich die nächste. Sie sitzt bombenfest, wie die beiden anderen. Doch dann erkenne ich eine kleine Schließvorrichtung, die die anderen nicht hatten. Dann kann man diese also auch von außen öffnen.

Ein Hoffnungsschimmer.

Ich greife zu meinem Gürtel und löse den kleinen Beutel von meiner Hüfte. Darin befinden sich mehrere kleine Metallstücke, Haarnadeln, ein Taschenmesser, Schmerztabletten, sowie ein gefälschter Ausweis und eine Fahrkarte. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich woanders aufwache, als ich eingeschlafen bin – inzwischen bin ich einigermaßen ausgerüstet.

Nach wenigen Minuten habe ich es geschafft, das Schloss ist offen. Unter einigem Ächzen stemme ich die Luke auf und lasse mich direkt hinunter auf den dunklen Flur fallen. Es ist keine sanfte Landung, dafür bin ich auf sicherem Untergrund angekommen. Schließen kann ich die Luke nicht mehr, sie ist zu hoch oben an der Decke – aber ich will sowieso nur noch hier raus.

Ich folge dem Gang, bis ich zu einem Treppenhaus gelange. Dem Schild zufolge bin ich im neunten Stock. Immer zwei Treppen auf einmal nehmend rase ich die Stiegen hinunter, aus dem Augenwinkel erkenne ich Zimmernummern bei den Ausgängen – vielleicht bin ich im Hotel Amour? Im Erdgeschoss angekommen orientiere ich mich erst einmal – wenn ich wirklich in dem Hotel bin, kann ich nicht einfach durch die Eingangstür hinaus-spazieren. Denn dort sitzt bestimmt der Nachtportier oder die Rezeption ist besetzt.

Ein Schild zeigt, dass der Personalausgang rechts liegt. Hoffend folge ich dem Wegweiser und habe tatsächlich Glück. Zwar ist der Personalausgang abgesperrt, doch das stellt kein Problem dar. Ich greife nach meinem Beutel mit den Metallnadeln. Binnen von Minuten stehe ich draußen auf der Hinterstraße des Hotel Amours im schwachen Scheinwerferlicht der Laterne.

Müll stapelt sich gegenüber und unter meinen Sohlen spüre ich tausende von Zigarettenstummeln. Meinem Bauchgefühl nach wende ich mich nach rechts und folge der Straße. Wenige Straßen weiter entdecke ich endlich das, wonach ich Ausschau gehalten habe – eine U-Bahnstation.

In der Station ist es unheimlich. Ich verberge mich im Schatten und versuche, nicht aufzufallen. Außer mir wartet noch eine andere Person auf die Bahn, eine Frau, wahrscheinlich Mitte dreißig. Gott sei Dank schenkt sie mir kaum Beachtung.
Ich lenke meinen Blick zur Anzeigetafel. In sechs Minuten kommt der nächste Zug. Es ist 02:24. Kurz vor halb drei. Schnell rechne ich im Kopf nach – um ungefähr 23:30 bin ich schlafen gegangen, die Blackouts setzen meistens direkt nach dem Einschlafen ein – das heißt, ich war fast drei Stunden unterwegs. Das ist wirklich lange, viel länger als normalerweise. Beunruhigend lange. Noch dazu war das Aufwachen heftiger als sonst.
Noch immer spüre ich den reißenden Wind in meinen Haaren und das kühle Glatt des Daches unter meinen Fingern.
Wenn ich vor 03:00 Uhr zu Hause bin, könnte ich noch gute vier Stunden schlafen ... Schlafstunden, die ich unbedingt brauche.

Denn während der Blackouts schlafe ich nicht – mein Körper wandert irgendwo umher, tut irgendwelche Dinge, die ich nicht verstehe und mein Geist bleibt davon ausgeschlossen. Ich kann mich an nichts davon erinnern – immer nur an das abrupte Aufwachen danach.

Schwarz wie die NachtOù les histoires vivent. Découvrez maintenant