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2. Normalität (2)

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Der Bus ist wie immer unpünktlich.

Als er endlich ankomme, ist er noch beinahe leer, doch das wird sich nach ein paar Stationen ändern. Ich steige ein und setze mich auf meinen Stammplatz ganz hinten links in der Ecke. Hier ist es ruhig und man bekommt von dem Trubel, der bald einsetzen wird, kaum etwas mit. Wie üblich stecke ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und versinke in meiner Musik. Nach und nach füllt sich der Bus. Doch zu mir setzt sich niemand, ich bleibe alleine, so wie immer. Da ist niemand, der mir zunickt, der mich beachtet, der mich grüßt oder mir zulächelt. Ich bin eine Einzelgängerin.

Einzelgängerin ist ein viel schöneres Wort als Außenseiterin. In meiner Klasse gibt es niemanden, mit dem ich in der Pause rede, niemand, der mich weiter beachtet. Ich bin nur die ruhige, uninteressante Mitschülerin.

Manchmal wünsche ich mir, ich hätte eine Freundin. Eine beste Freundin, der ich von all meinen Problemen erzählen könnte, eine Freundin, die mich verstehen würde. Aber dann denke ich daran, dass das einfach nicht geht, weil mich jeder sofort für verrückt halten würde, sobald er meine Geschichte erfährt. Wie soll ich jemanden erklären, warum ich vollständig angezogen und mit Schuhen ins Bett gehe? Warum ich immer müde bin, warum ich in der Nacht weggehe, wenn ich selbst einmal nicht weiß warum?

Nein, es ist schon gut so. Gut, dass es niemand weiß. Dann würden mich alle endgültig für gestört halten. Nein, je weniger Kontakt ich mit anderen habe, desto besser.

Obwohl ich es mir sosehr wünsche.

Einfach ein normales Mädchen zu sein, ein normales Leben zu führen, so wie das blonde Mädchen zwei Reihen vor mir. Sie sitzt am Fenster und starrt hinaus, doch sie wirkt glücklich und voller Vorfreude. Der Bus hält und ich erkenne den Grund ihrer Aufgeregtheit. Ein Junge steigt ein. Er steigt an derselben Station wie immer ein, er wohnt ja nur drei Straßen weiter. Leon. Breite Schultern, Haare, die ihm störrisch in die Augen fallen. Leon Domingo. Von meinem Platz hinten kann ich ihn beobachten, so wie jeden Tag. Ich weiß nicht mehr wann ich begann ihn zu beobachten. Er ist keiner der ganz beliebten meines Jahrgangs, aber auch nicht unbeliebt. Unwissentlich findet mein Blick jeden Morgen seinen Haarschopf zwei Reihen vor mir. Leon macht zwei lange Schritte in den Bus und setzt sich zu der Blondine vor mir. Ich höre sein leises, geflüstertes „Hey" und kann den Blick nicht abwenden, als die beiden sich küssen. Ich schlucke und sehe doch weg. Ja, wie sehr würde ich mir ein normales Leben wie das des Mädchens wünschen.

Dabei kennt er mich nicht einmal – für ihn wäre ich wahrscheinlich nur das schwarzhaarige Mädchen aus dem Bus, das immer ganz hinten sitzt. Und trotzdem sehe ich ihn immer an, denke mir, ich wäre so gerne dort bei ihm. Ob ich für ihn schwärme oder nicht lässt sich nicht sagen. Er wirkt nett, aufgeschlossen. Er lächelt viel, selbst so früh am Morgen. Vielleicht verkörpert Leon – und jetzt gemeinsam mit dem blonden Mädchen – den Wunschtraum des Lebens, das ich leben möchte.

Quietschend hält der Bus vor der Schule. Gemeinsam und doch abgespalten von den anderen steige ich aus und mache mich auf den Weg zu meinem Klassenzimmer.

In den Gängen der Schule ist das reinste Chaos. Wacker kämpfe ich mich zu Garderobe meiner Klasse durch und lege meine Jacke ab. Erste Stunde Psychologie. Immerhin eine Lehrerin, dich mich recht gut leiden kann. Ich warte, bis es gleich läuten muss. Wenn ich kurz vor knapp in das Klassenzimmer komme, haben meine Mitschüler vielleicht gar keine Chance, irgendeinen dummen Kommentar abzugeben.

Flüchtig werfe ich noch einen Blick auf meine Spiegelung in der Glastür. Mein Haar schimmert schön. Es sieht kräftig und gesund aus, allerdings sieht man mir gleich auf den ersten Blick an, wie wenig ich geschlafen habe. Selbst meine Haut, normalerweise ein eher dunklerer Teint, wirkt blass. Ich verziehe das Gesicht und wappne mich innerlich für den Schultag.

Schwarz wie die NachtWhere stories live. Discover now