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2. Normalität (1)

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Pünktlich um 06:30 reißt mich mein Wecker aus dem Schlaf. Das schrille Piepen dröhnt in meinen Ohren, doch ich weiß, dass es das einzige Geräusch ist, das mich wecken kann. Sanfte, melodische Wecktöne überhöre ich und schlafe einfach weiter. Suchend taste ich mit der Hand nach dem kleinen Knubbel, dem Ausschalt-Knopf.

Stille.

Gefunden.

Am liebsten würde ich in meinem warmen Bett bleiben und ewig weiterschlafen, herumsitzen, lesen und nichts tun, ruhen und entspannen. Aber ... nun ja, das geht nicht. Unten warten meine Eltern, die nichts von meinen nächtlichen Ausflügen wissen und glauben ich hätte gesunde acht Stunden geschlafen anstatt der kläglichen drei.

Mehrmals in der Woche nur drei bis fünf Stunden Schlaf – das tut meinem Körper nicht gut. Heißt es nicht, Jugendliche würden in der Pubertät viel Schlaf brauchen?

Schon beim Aufstehen spüre ich die Trägheit in meinen Knochen. Heute wird ein langer Tag werden.

Inzwischen habe ich mich an die ewig währende Müdigkeit gewöhnt, ich habe Methoden gefunden, wie ich mich in der Schule wachhalten und am Nachmittag kleine Schläfchen halten kann, ohne dass meine Eltern misstrauisch werden.

Als Erstes wanke ich ins Bad und spritze mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Der Spiegel bestätigt mir meine Vermutungen. Heute ist wirklich kein gnädiger Tag.

Sobald ich fertig bin, gehe ich ins Wohnzimmer, wo meine Eltern bereits wach sind.

„Morgen, Neela", begrüßt mich meine Mutter.

„Morgen", grummle ich und husche zur Küche, wo ich eine Schüssel Müsli hervorzaubere und Milch darüber gieße. Schweigend setze ich zu meiner Mutter an den Esstisch und beginne mechanisch zu essen.

„Hast du gut geschlafen?"

Beinahe muss ich bei dieser Frage lachen. Sieht sie nicht mein Gesicht? „Nein, nicht unbedingt. Keine Ahnung, was zurzeit los ist ...", meine ich achselzuckend und tue ganz so, als wäre meine häufige Müdigkeit und der schlechte Schlaf nur eine Phase. Meine Mutter seufzt bedeutend, streicht sich eine braune Locke hinters Ohr und hebt den Teebeutel aus ihrer Tasse.

„Ich habe heute auch nicht gut geschlafen. Naja, vielleicht ist es der Vollmond ... oder dein Physiktest", sagt sie und blickt mich dabei direkt an. Die freundliche Unschuld ihrer Frage nach meinem Schlaf ist einem passiv-aggressiven Unterton gewichen. Ich krümme mich unter ihrem Blick, wage es nicht, ihr auszuweichen.

„Möglich ..."

„Neela! Dir ist bewusst, dass das so nicht weitergehen kann, oder? Das ist nicht die erste schlechte Note, die du dieses Halbjahr heimbringst! Muss ich dich an die beiden Anrufe deines Klassenvorstandes im Dezember erinnern, daran, dass du Frühwarnungen in zwei verschiedenen Fächern hattest und ich nicht einmal davon wusste?" Ich richte meine Augen auf mein Müsli und rühre in der Milch herum. „Neela, wir müssen etwas tun. Es ist dein vorletztes Jahr, dann hast du es schon geschafft! Jetzt eine Ehrenrunde zu drehen wäre komplett unnötig. Und für unser Leben ziemlich mühsam."

Ich nicke und esse weiter. Logisch, dass in ihrer Argumentation ihr Leben an erster Stelle steht. Meine Mutter seufzt.

„Ich verstehe es ja auch nicht. Du bist intelligent, du warst immer schon eine sehr gute Schülerin. Hattest nie Probleme. Wenn irgendetwas los ist, dann weißt du, du kannst mit mir über alles reden. Ich sage dir das ja auch nicht zum ersten Mal. Bitte, Neela. Warten wir die Ergebnisse der Schularbeit und des einen Testes ab, bevor wir weiter schauen. Aber bitte sei dir im Klaren darüber, dass es so nicht weiterlaufen kann."

Damit steht sie auf, trägt ihr Geschirr in die Küche. Klappernd räumt sie es in den Geschirrspüler ein und verlässt das Esszimmer. Bedrückt sitze ich da. Heute bekomme ich meine Mathematikschularbeit zurück – und die war nicht gut. Den Test, von dem sie gesprochen hat – Geschichte – habe ich vorgestern zurückbekommen, hatte aber noch nicht den Mut, ihn meinen Eltern zu zeigen.

Seufzend erhebe ich mich und will den Raum verlassen, da höre ich eine Radiomeldung, die mich innehalten lässt. Es geht um einen jungen Mann, der gestern Nacht im St. Anne–Krankenhaus gestorben ist. Dem Bericht zufolge hatte er am Tag davor eine schwere Operation, die er allerdings problemlos überstand. Rein gar nichts hatte auf eine Fehlfunktion oder Schwäche seines Körpers hingedeutet, alles sei bestens verlaufen, der Patient war wenige Stunden nach der Operation wieder bei Bewusstsein und hellauf. Die Ärzte sind ratlos und können sich den Herzfehler und darauffolgenden plötzlichen Tod des Mannes nicht erklären.

Ein Schauer überläuft mich. Ich bin gestern Nacht nicht weit vom St. Anne-Krankenhaus aufgewacht. Das Hotel Amour liegt drei Querstraßen weiter. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend verlasse ich die Küche.

Nach dem schnellen Frühstück beginne ich, mich für den Tag fertig zu machen. In der Früh bin ich relativ flott, deswegen kann ich es mir leisten, ein wenig länger zu schlafen – und ich brauche unbedingt den Schlaf. Da mein Körper in den Stunden der Nacht, in der ich keine Kontrolle über ihn habe, aktiv ist, bekomme ich keinen Schlaf. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich einen Marathon gerannt. Dann herrscht in meinen Beinen ein Muskelkater, der jeden Schritt schmerzhaft macht. Und wahrscheinlich liege ich mit dem Marathon nicht so falsch – die Orte, an denen ich aufwache, befinden sich quer über die ganze Stadt verteilt, ab und zu auch außerhalb, auf dem Land.

Hastig durchstöbere ich meinen Kleiderschrank und fische ein olivfarbenes T-Shirt heraus. Während ich nach einer passenden Hose suche, höre ich meine Mutter von draußen rufen: „Neela, ich gehe! Wir sehen uns dann am Abend! Und bring die Arbeiten mit!"

„Ja, Tschüss", antworte ich ihr durch die Türe. Mit einer schwarzen Jeans in der einen Hand und einer dunklen Strickjacke in der anderen husche ich durch mein Zimmer ins Bad und ziehe mich um. Dann bürste ich meine langen, nachtschwarzen Haare und lasse sie offen nach unten hängen. Ein bisschen Wimperntusche, das war's. Für mehr Aufwand bin ich viel zu faul und habe außerdem keine Ahnung, wie ich diese tausenden Make-up-Produkte überhaupt verwenden soll. Ich bin froh, wenn ich mir dem Bürstchen der Wimperntusche nicht die Augen aussteche. Als letztes schnappe ich mir meine Tasche, ziehe mir Stiefeletten an und verlasse das Haus.

Schwarz wie die NachtWhere stories live. Discover now