Das Nest (Auszug)

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Der Wind erschien ihm noch kälter als zuvor, und es erfüllte ihn mit Angst und Mitleid, einige der verzweifelten Menschen hilflos an dem engmaschigen Metallgitter rütteln zu sehen. Wollten sie tatsächlich springen, um nicht bei lebendigem Leib zu verbrennen?
Er sog die Luft tief in seine Lungen, und er zwang sich, ruhig zu atmen.
Ob es noch andere gab, die sie hörten? Ob vielleicht ein einziger Mensch außer ihm fühlen konnte, was hier wirklich geschah? Sie würden sterben, wenn sie sich weigern, wenn sie sich unfähig erweisen würden, das Nest zu verlassen. Ihre Schreie wurden zu einer Melodie, und diese Melodie ließ seinen ganzen Körper vibrieren. Es dauerte an, es hörte nicht auf, und er fühlte sich euphorisch. Beinahe wäre er über sie gefallen, weil er nur noch Augen für das Gitter hatte.
Das kleine Mädchen war vollkommen ruhig, und sie schien keine Angst zu haben. Ihr langes Haar bewegte sich im Wind; es schien mit dem Wind zu spielen. Er hatte keine Erinnerung an sie, weder in der Wirklichkeit noch im Traum. Sie nahm seine Hand, und alles in ihm wehrte sich, weigerte sich, wollte nicht anerkennen – aber er fühlte, als er in ihre Augen sah, und die Tiefe war unendlich.
„Lass uns fliegen, Mister!"
Ihr Körper vibrierte mit der gleichen Intensität wie sein eigener, und als er für einen Moment die Augen schloss, empfand er diese unglaubliche Dringlichkeit angesichts der Reduzierung aller Möglichkeiten auf diesen einzigen Ausweg. Ihre Stimme war vollkommen eins mit der Melodie in seiner Blutbahn, und Hand in Hand näherten sie sich dem Gitter.
Die Maschen waren eng, und das Metall war zwei Zentimeter dick.
Aber es gab keinen Zweifel, denn es war der nächste Schritt, den sie gehen mussten. Das Metall fühlte sich heiß an, als er es mit der Handfläche berührte. Er holte weit aus, und dann schlug er mit aller Kraft wieder und wieder zu.

aus: Das Nest

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