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Ich sehe mit großen Augen auf den Brief , der vor mir auf dem kalten Boden des Speichers liegt. Langsam lese ich den Absender und den Adressierten. Nach und nach entziffere ich die leicht verschmierten Wörter auf dem alten Brief.


                      Erfurt, den 07. 05. 2010

Liebe Lena,
Wahrscheinlich kennst du mich nicht mehr und deshalb schreibe ich dir diesen  Brief. Kurz nach deiner Geburt sind deine Eltern mit dir von Erfurt weggezogen und haben jeglichen Kontakt zur Außenwelt gemieden. Ich habe mich dennoch sehr gefreut, Onkel zu werden und versucht Kontakt zu dir aufzubauen doch leider vergeblich, denn das einzige was ich von dir hab ist deine Adresse und wenn die nicht falsch ist, dann wirst du den Brief vermutlich weder lesen noch zu Gesicht bekommen. Ich würde mir so wünschen, dass wir Kontakt aufbauen und schreibe dir deswegen meine Handy Nummer hier her:
+49 160 996581
Fals sich meine Nummer ändern sollte schreibe ich dir selbstverständlich einen neuen Brief.
  
   Liebe Grüße,
Dein Onkel Niklas.

Kaum zu glauben, dass meine Mutter mir 13 Jahre lang verschwieg, dass ich einen Onkel habe. Gut, er wohnt ziemlich weit weg, aber trotzdem habe ich ein Recht darauf, meine Verwandtschaft kennenzulernen.

Ich falte den Brief zusammen und stecke ihn in meine Hosentasche.

Eigentlich wollte ich auf dem Dachboden nur mein altes Matheheft suchen, denn ich habe morgen eine wichtige Matheprüfung, doch dass ist mir jetzt egal. Ich steige schnell die Leiter des Speichers hinunter und gehe in mein Zimmer.

Als ich meine Mutter schreien höre, dass es Essen gibt, schiebe ich den Brief mit leicht zittrigen Händen unter mein Kopfkissen.

Am Tisch sage ich kein einziges Wort zu meiner Mutter. Ich bin immer noch in Gedanke an diesen Brief von einem Onkel, einem Niklas, als meine Mutter anfängt zu reden. " Was? ", frage ich, denn ich habe kein einziges Wort verstanden. Sie leert ihren Mund und beginnt von neuem zu sprechen : " Was hast du denn am Speicher gesucht? " Ich kann gar nicht klar denken. Soll ich ihr das mit dem Brief sagen, oder doch lieber das mit dem Matheheft. Es dauert ewig bis ich mich entschieden habe. Schließlich erzähle ich ihr dann doch lieber die Geschichte mit dem Matheheft. Hastig esse ich meine Suppe zu Ende. Ich stehe mit wackligen Knien auf und versuche schnell, ohne mir was anmerken zu lassen in mein Zimmer zu laufen. Bevor ich die Tür zum Gang erreiche rufe ich noch, dass ich Mathe lernen müsse.

In meinem Zimmer angelangt greife ich sofort zu meinem Handy und versuch es anzuschalten. Wütend haue ich auf die Tasten doch mein Handy lässt sich nicht einschalten. Bis ich realisiere, dass es wohl keinen Akku mehr hat vergeht eine Ewigkeit. Ich stecke es an das Ladegerät und warte. Ich denke mir schon dir ganze Zeit ob ich eigentlich total blöde geworden bin und entschließe mich dazu, mich ein wenig auf Mathe zu konzentrieren bis mein Handy wieder Saft hat.

Die Mathe Aufgabe macht mich nun schon seit einer halben Stunde verrückt. Ich komme einfach nicht auf das richtige Ergebnis. Geladen voller Wut zerreiße ich das Blatt.

Ich lege mich auf mein Bett und beginne zu heulen. Mir kommen große Zweifel an morgen. Ich schließe die Augen und versuch mir vorzustellen wie mein Onkel aussieht, doch ich werde auf grausame Art aus meinen Vorstellungen gerissen.

Mein Vater steht in meinem Zimmer und ist kurz davor mich Ohr zu feigen. Ich kann seiner Hand gerade so entweichen und versuche nun ihn so mit Worten zu bombardieren, dass er freiwillig mein Zimmer verlässt. Doch stattdessen startet er einen neuen Versuch. Er trifft mich direkt ins Gesicht. Vor lauter Wut beginne ich wild auf ihn einzuhämmern, doch das lässt ihn völlig kalt. Er schreit mich an, warum ich nicht Mathe lernen würde und warum ich meine Mutter anlügen würde, dass ich Mathe lerne. Ich zucke zusammen. Vor Angst er würde mich noch mal schlagen setzte ich mich an meinen Schreibtisch und beginne erneut mit der Aufgabe. Ich gebe mir wirklich Mühe das richtige Ergebnis rauszubekommen, denn mein Vater steht immer noch neben mir und schaut jeder meiner einzelnen Bewegung zu.

Schließlich kommt auch noch meine Mutter in mein Zimmer. Sie gibt meinem Vater einen Kuss auf die Wange und mir eine zweite Ohrfeige ins Gesicht. Sie hält mir die gleiche Moralpredikt die ich schon von meinem Vater zu hören bekommen habe.

Meine Eltern verstehen keine Funken von Mathe, aber sie haben das Lösungsblatt in Beschlag genommen, auf welchem leider nicht nur das richtige Ergebnis, sondern auch der Lösungsweg steht. Wenn ich es nicht genau so mache wie es auf dem Blatt steht riskiere ich zwei weitere schmerzhafte Ohrfeigen und das will ich auf jeden Fall verhindern.
                                        
Also versuche ich mich an den Lösungsweg zu erinnern. Ich schaffe die ersten drei Schritte gerade noch richtig aufs Blatt zu bringen, als das Handy meines Vaters klingelt.

Er geht aus dem Zimmer und meine Mutter auch. Das Gespräch muss anscheinend sehr wichtig sein, denn vor lauter Aufregung lässt mein Vater das Blatt auf den Boden fallen. Ich hebe es auf, prägen mir den restlichen Lösungsweg ein und lasse das Blatt wieder auf den Boden sinken. Ich rechne die Aufgabe nun sehr langsam weiter, denn ich will mir den Erfolg, vor meinen Eltern das richtige Ergebnis raus-zubekommen nicht entgehen lassen.

Ich bin fast fertig mit der Aufgabe, als ich meinen Vater auflegen und ins Wohnzimmer gehen hören. Mist. Den Erfolg kann ich mir ja nun abschminken. Ich starre auf das Blatt und versuch die Lösung nachzuvollziehen, als mein Vater ins Zimmer kommt, mir das Lösungsblatt wegnimmt und sagt: " Du machst jetzt Aufgabe 1a,b,c,d Aufgabe 2a,b,c und Aufgabe 3a und b. Du hast 4 Stunden Zeit und wenn du nicht die richtige Lösung oder nicht alle Aufgaben gemacht hast wiegt du ja was dir blüht."

Er verlässt das Zimmer und ich setze mich wider an die Aufgaben. Das mit dem Telefonat kann ich mir ja dann abschminken, denn ich werde den restlichen Tag an diesen verflixten Mathe Aufgaben sitzen und das Resultat daraus ist das ich mir zum Schluss wieder zwei Ohrfeigen von meinen Eltern abholen darf.

Den ganzen Tag sitze ich nun schon an Mathe und denke an nichts anderes mehr und den Brief habe ich auch ganz vergessen.
  

In aller freundschaft die jungen ärzte Kde žijí příběhy. Začni objevovat