EINS oder wie Elaine begann eine Lüge zu leben

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Seitdem Elaine, als kleines Kind, erfahren hatte, dass jeder irgendwann sterben würde, hatte sie den Tod niemals als etwas Schreckliches gesehen. Für sie war er ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Das Ende, das Ziel, und jeder Mensch läuft mit jedem Tag auf dieses Ziel zu, man kommt ihm immer näher und näher. Sie konnte nie verstehen, warum andere Angst vor dem Tod hatten. Natürlich war es nicht schön jemand wichtigen zu verlieren, aber wie schon gesagt, es gehörte nun einmal zum Leben dazu.
Doch nun, wo sie wusste, dass sie nur noch eine bestimmte Anzahl an Tagen hatte, erschien ihr der Tod schon irgendwie beängstigend. Aber nicht, weil sie Angst vor dem Tod hatte, sondern weil sie Angst hatte etwas zu verpassen und vor allem weil sie Angst davor hatte ihre Familie zu verlassen.
Der Tag der Diagnose ist nun schon zwei Tage her. In diesen zwei Tagen saß Elaine nur in ihrem Zimmer. Sie tat rein gar nichts außer Serien zu suchten und einen Plan zu erstellen. Ein Plan, mit dem sie es hoffentlich schaffte ihre Wünsche zu erfüllen, oder zumindest so viele wie möglich.
Sie wusste, dass unten ihr Vater und ihre Schwester saßen und bedrückt genau das selbe taten, wie sie auch. Die Wahrheit verschweigen. Es war zwar ihr Wunsch gewesen, doch nun bereute sie es etwas. Sie vermisste ihren besten Freund, der ihr sagte, dass der Tod nur ein Wort sei und dass alles wieder gut werden würde. Doch es war besser so, sonst würde er zwar vor ihr auf Friede, Freude, Eierkuchen machen und alleine in der Nacht weinen, so als wäre sie schon längst tot.
Genau davor hatte sie Angst, davor schon als tot zu gelten. Schon aufgegeben zu werden und vor allem vor diesen schlimmen traurigen und mitleidigen Blicken.
Dieser Blick, den auch Doctor Johnson immer hatte, wenn er sie anschaute.
Sie war noch nicht tot, sie lebte noch und sie hatte vor auch noch ein wunderbares letztes Jahr zu überleben. Ein letzter Blick auf ihr Spiegelbild verriet ihr, dass sie bereit war. Bereit für den ersten Schultag als offiziel todkrankes Mädchen.
Ihre hellbraunen Haare fielen ihr leicht gewellt über ihre Schultern. Ihr Pony verdeckte ihre Stirn und ihre schwarze Brille voll endete ihr Gesicht. Sie war nichts besonderes, sie war weder besonders hübsch, noch außergewöhnlich. Sie war normal, das einzige, was sie besonders machte, war der beschissene Tumor und er war ein Teil von ihr. Ihre grün grauen Augen glänzten leicht von den Tränen, mit denen sie seit neusten aufwachte.
Glücklicherweise gab es Schminke, sonst hätte sie ein Problem, denn unter ihren Augen waren über die Nacht tiefe Augenringe entstanden. Ein letztes trauriges Lächeln und dann schnappte sie sich ihre Schultasche.
In der Küche saßen schon ihr Vater und ihre Tante Dora und frühstückten. Ihre Schwester Mia schlief wahrscheinlich noch oben in ihrem Zimmer.
Mia war das komplette Gegenteil von ihr, sie liebte Patys und war beliebt in der Schule. Ganz im Gegensatz zu ihr, sie würde sich wohl eher, als das Mauerblümchen beschreiben. Ihr Vater sagte immer, dass sie sehr nach ihrer Mutter kommen würde. Doch wirklich etwas bringen tat es ihr nicht, denn ihre Mutter war drei Jahre nach der Geburt von Mia einfach abgehauen. Ihr Vater hatte Josh, Mia und sie ganz allein groß gezogen, zumindest fast, vor zehn Jahren zog Tante Dora zurück in die Stadt und vor sieben Jahren zog sie bei ihnen ein. Für Mia war die Schwester ihres Vaters eine Ersatzmutter und für sie selbst war Dora einfach nur ihre leicht spezielle Tante.
Damals als ihr Bruder Josh seine Freundin uns vorgestellt hatte, hatte Tante Dora sie direkt gefragt, wann ihr Bruder denn seinen ersten Enkel oder seine erste Enkelin erwarten könnte.
"Morgen, Engel. Willst du auch einen Kaffee?"
Elaine schüttelte nur den Kopf und schüttete sich ein Glas Orangensaft ein. Für sie war kein Getränk besser als Orangensaft. Kaffee kam zwar nah an O-Saft heran, aber er würde es niemals übertreffen.
Während sie gerade ihr Glas leerte und sich gleichzeitig Müsli in den Mund stopfte, trat eine dritte Person in den Raum. Verschlafen strich Mia sich über ihre Augen und torkelte zum Küchentisch. Scheinbar hatte sie gestern mal wieder zu lang mit ihrer besten Freundin telefoniert. Das machten die beiden ständig, dabei sahen sie sich sowieso fast jeden Tag.
"Morgen, Schlafmütze." begrüßte ihr Dad auch ihre Schwester. Diese antwortete nur mit einem Grummeln und griff dann direkt nach der Kaffeetasse, die Dora ihr hin gestellt hatte.
Zügig trank sie die Tasse aus und verschwand direkt wieder in ihrem Zimmer.
Auch Elaine stand nun auf und packte ihre letzten Sachen zusammen. Dazu gehörte ihre Brotdose, ihr Handy und ihr kleines Notizbuch, dass sie immer mit sich herum schleppte. In diesem Buch standen auch ihre 99 Wünsche. Die Wünsche passten genau auf drei Seiten, wobei die letzten Neun auf der Dritten standen.
Genau diese Neun beschafften sich so ziemlich alle mit ihrem Tod und waren deswegen nicht unbedingt für jeden gedacht.
Es klingelte an der Haustür. Das musste Lion sein. Schnell öffnete sie die Tür und lief direkt wieder zurück um ihre Tasche zu holen. Dabei rief sie gleich nach Mia, da sie meist mit Lion und ihr mit fuhr. Wenn Lion die beiden nämlich nicht mit zur Schule nahm, mussten sie mit Bus fahren und niemand fuhr wirklich gerne mit Bus.
Doch Mia kam einfach nicht. Leicht verärgert lief Elaine also noch einmal die Treppe hinauf und platzte in das Zimmer ihrer Schwester. Diese stand gerade noch vorm Spiegel und schminkte sich. Kurz entschlossen griff sie nach der Schminke in ihrer Hand und legte sie beiseite, danach zog sie ihre Schwester am Handgelenk zur Tür raus. Zum Glück stand die Tasche schon im Flur.
Kurz darauf öffneten die beiden Schwestern das Auto von Lion und fuhren los.

How I would like to say GoodbyeWhere stories live. Discover now