Der sechste Tag

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Tag Nummer 6 oder Händchenhalten ohne Körperkontakt

Am Ostermontag dem sechsten April begannen die Frühjahrsferien offiziell, inoffiziell zählte jeder das Wochenende irgendwie immer schon dazu.

Ich tat das zumindest, denn zwei Tage mehr Ferien, waren zwei bessere, bereichertere und lebensqualitätsmäßig hochwertigere Tage.

Ich saß in meinem Bett und die Sonne schien durch mein Fenster. Die Staubpartikel schwirrten glitzernd in der Luft herum. Das Ganze hatte eine magische Atmosphäre und ich genoss das Gefühl nirgendwo zu spät zu sein und nirgendwo hin zu müssen. Nicht mal die Sonne hatte mich aus meiner inneren Ruhe reißen können, als sie mir ekelhaft warm ins Gesicht geschienen und mich so aus meinen Träumen gerissen hatte. Die waren allerdings sowieso ein wenig verquer gewesen, deshalb war ich sogar fast froh über die Unterbrechung gewesen. Das hatte sich jedoch geändert, nachdem ich einen Blick auf den Wecker geworfen hatte und dummerweise feststellen musste, dass es erst halb acht war. Definitiv zu früh, um an einem Ostermontag aufzustehen!

Also hatte ich die Geheimniskiste aus ihrem Versteck geholt und geöffnet.

Jetzt schwelgte ich seit einer Stunde in Erinnerungen und war mit mir und der Welt ziemlich zufrieden. Was selten genug vorkam und deshalb versuchte ich auch Jede Minute in vollen Zügen auszukosten.

Gerade hielt ich ein Ahornblatt in der Hand, dass ich an meinem sechsten Geburtstag von meiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Sie hatte es als sie mit mir schwanger war in einem dicken Wälzer über Schwangerschaftsvorsorge gepresst. Sie hatte mir später mal gesagt, dass sie das Buch nie gelesen, aber einfach behalten hatte, weil man darin so herrlich Blätter pressen konnte. Aber so war meine Mum einfach. Sie hatte immer ein Ding für gute Buchpress-Bücher gehabt.

Als ich mit 12 das erste Mal ein furchtbar dickes, schweres Biologiebuch mit nach Hause gebracht hatte, um für die Hausaufgaben darin zu lesen, war es bereits am selben Abend verschwunden, weil meine Mutter ein paar Gänseblümchen darin gepresst hatte.

In dieser Hinsicht war meine Mum vermutlich mehr Teenager gewesen, als ich jemals sein würde und ich vermisste sie ganz furchtbar. Jetzt bereute ich, dass ich mich ständig beschwert hatte sie wäre nicht „erwachsen" genug und ich müsse die ganze Verantwortung für Mika und Torben übernehmen. Meine Mum war ein wenig verplant gewesen, das stimmte schon, aber sie war auch fürsorglich und liebevoll und hatte sich damals wie ein Löwe vor mich geschmissen, als Angelina Parker behauptete ich hätte ihr im Bastelunterricht das T-Shirt mit Ölfarbe beschmiert, obwohl sie es selbst gewesen war und nur Angst vor der Reaktion ihrer Eltern hatte.

Ich vermisste meine Mum und das würde ich ihr niemals sagen können. Wir würden niemals gemeinsam auf meinem Bett liegen und über Jungs reden und auch niemals zusammen nach Ballkleidern gucken gehen.

Seufzend legte ich das Ahornblatt zur Seite. So schön es auch war in der Vergangenheit zu schwelgen. Irgendwann musste man doch loslassen, um nicht für immer in ihr festzustecken.

Ich nahm seine Briefe in die Hand und las sie mir der Reihe nach noch einmal durch.

Es tat gut mich mit etwas zu beschäftigen, dass ganz aktuell war und nicht in unmittelbarer Verbindung zu meiner Mutter stand.

Jetzt wo ich wusste was es mit seinem Rätsel auf sich hatte, fragte ich mich wie ich so blind hatte sein können.

Wenn man sich vorher ein bisschen mit ihm unterhalten hatte war es eigentlich offensichtlich, was er damit sagen wollte. Ich war ein bisschen genervt von mir selber. Eigentlich hatte ich mich immer für einen Menschen mit guter Menschenkenntnis und schneller Auffassungsgabe gehalten, aber das konnte ich mir ja wohl abschminken.

12 Tage AprilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt