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»Wenn du unbedingt etwas tun musst, dann fahr nach Hamburg und helfe diesen Mistkerl zu finden«, herrschte Kilian Florian an. Die Stimmung zwischen den Freunden konnte schlechter nicht sein. Obwohl Kilian es ausdrücklich verbot, besuchte Florian zwei Mal heimlich Lena, um zu sehen wie es ihr ging. Die ahnte nichts davon, da er unsichtbar blieb. Er hatte ihre Gefühle gespürt. Hoffnungslosigkeit, Furcht, Schmerz über ihre Arglosigkeit, aber auch Liebeskummer wegen Dimitri.

Widerwillig begriff er, dass trotz des Verrats ihr Herz nach wie vor dem Schattenmann gehörte. Mürrisch stimmte er deshalb Kilian zu. »Ich fahre nach Hamburg und Gott helfe diesem Dreckskerl, sollte ich ihn aufspüren. Egal wie du dazu stehst, ich werde ihn nicht verschonen.« Kilian nickte. Es machte keinen Sinn, dem Freund weitere Vorschriften zu erteilen. Die Emotionen in dessen Gesicht sprachen Bände.

Kurze Zeit darauf packte Florian erleichtert seine Tasche. Froh, endlich etwas bewirken zu können, andererseits widerstrebte es ihm Lenas Schutz anderen zu überlassen. Noch einmal verstieß er gegen das Gebot seines Freundes und besuchte sie. Dieses Mal jedoch, klingelte er offiziell an der Tür. Als Biene ihm nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete, erlosch ihr einladendes Lächeln und eine abweisende Miene zeigte sich stattdessen. »Sie schläft«, begrüßte sie ihn kalt. »Kann ich sie sehen?« Obwohl es ihr nicht passte, ließ sie ihn ein und er marschierte schnurstracks die Treppe hinauf. Leise betrat er Lenas Zimmer.

Angst, Misstrauen und Ablehnung schlugen ihm beim öffnen der Tür wie eine Wand entgegen. Vorsichtig spähte er durch den schmalen Spalt. Klein und verletzlich saß sie aufrecht in ihrem Bett. Eng drückte sie Schnuffi an sich, als könne dieser ihr Halt geben. Der weißgraue Stoffhund mit den Schlappohren begleitete Lena schon seit ihrer Geburt. Sie ahnte nicht, dass ihr Schmusetier, dem sie in der Kindheit Sorgen und Nöte anvertraute, nicht von ihren Adoptiveltern, sondern von Manuel und Tara stammte.

So vieles gab es, dass sie nicht über ihr Leben wusste. Das Schicksal stellte diese hübsche junge Frau auf eine verdammt harte Probe.

Er kämpfte gegen den Impuls zu ihr zu eilen, sie in die Arme zu schließen und ihr zu versichern, alles werde wieder gut. Als ob sie seine Gedanken erahnt hätte, hob sie plötzlich den Kopf und Florian betrat endgültig das Zimmer. »Verschwinde!«, zischte sie. Die unterdrückte Wut in ihrer Stimme traf ihn wie eine Bowlingkugel in den Magen.

»Hi«, erwiderte er kleinlaut und fragte sich im Stillen, weshalb sie wütend auf ihn war? Er wob ein feines Netz aus beruhigenden Strahlen. »Lass das, ich bin ausgebildet genug, um zu bemerken, was du tust«, knurrte sie. »Lena, ich wollte nur kurz nach dir sehen und mich verabschieden. Wir fahren nach Hamburg ....» Er ließ den Satz unbeendet, fürchtete sich, den Namen des Menschen auszusprechen, der dafür verantwortlich war, dass sie litt.

Wenn überhaupt möglich, sank sie noch mehr in sich zusammen. Florian trat unwillkürlich einen Schritt auf sie zu, doch sofort prallte er gegen ihre Abwehr. Er sollte sich freuen, dass ihre Instinkte funktionierten, aber das sie damit ihn fernhielt, erschütterte ihn. Sie traute niemandem mehr.

»Sei bitte vorsichtig! Auch wenn du es selbst weißt, halte dich unter allen Umständen fern von ihm, um deinetwillen!«, flehte er. Lena nickte. Als die Stille sich hinzog, blieb ihm nichts anderes übrig als zu gehen und sie mit einem unguten Gefühl zurückzulassen.

Der Schatten naht - Umbra NoctisWhere stories live. Discover now