01.12.2019, 20:03 Uhr

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Meine Geschichte begann wie jede andere. Mit irgendwelchen finsteren Gedanken über den Alltag. Dass ich nicht mit selbst zufrieden war, aber mich dann wieder nicht dabei alleine fühlte, da ich wusste, dass außer mir auch noch Tausende von Menschen sich nicht in ihrem eigenen Körper wohlfühlten. Ich starrte in den bewölkten Himmel und atmete aus, wobei sich ein kleines weißes Wölkchen aufgrund der Kälte bildete. Seufzend stieß ich noch einmal einen Schwall Luft aus, wie als wollte ich die Wolken am Himmel wegschieben, nur um einen Blick auf die Sterne zu haben. Ja, ich war ein Sternengucker, und? Anhand meiner Beschreibung von mir selbst möchte man erst nicht denken, dass ich ein romantischer Mensch war und Gott, so sah ich mit meinen dunklen, zerfetzten Klamotten definitiv nicht aus... 

Ich schaute noch einmal auf meine Uhr, versuchte eine Weile lang, etwas in der Dunkelheit zu entziffern und gab es nach einer Weile auf, um gleich nach meinem Handy zu greifen.  Das Gerät zeigte wie erwartet keine neuen Nachrichten an, sondern nur meinen Hintergrund und die leuchtenden Ziffern, die ich gebraucht hatte. Diese verdammten, protzigen Uhren mit römischen Ziffern...und sie leuchteten nicht einmal in der Dunkelheit! Ich hätte doch bei meiner alten Digitaluhr bleiben sollen. Aber was sollte man gegen ein relativ niedriges Selbstbewusstsein machen, das einem auftrug, andere nachzuahmen. Ich wäre mit meiner klobigen Uhr garantiert aufgefallen und das wollte ich nicht. Ich wollte mich in der Menge verstecken, dort drinnen still und leise planen, wie ich aus dieser Hölle rauskommen könnte, die sich Dorf schimpfte. 

Das Einzige, an dem ich in diesem spießigen Kaff Gefallen fand, war die alte Kneipe, die alle 24 Stunden lang geöffnet hatte. Ratet mal, wo ich gerade war...

Bingo.  Ich lehnte an den vertrauten Wänden des Lokals, dessen gelbe Farbe dabei war, abzublättern. Sollte ich es ihr gleichtun und mich auf den Boden plumpsen lassen? Und mir mal wieder Gedanken um den Sinn des Lebens machen, bis ich Schulter zuckend wieder herausfinden würde, dass es keinen gab, wie immer? Hm. Vielleicht. Die umgedrehte Getränkekiste aus Holz sah ganz bequem aus. Gedacht, getan. Ich setzte mich hin, leise darauf hoffend, dass sich keine Splitter in den Stoff meiner Jeans bohren würden. Das war eines meiner letzten gut aussehenden Klamotten, den Rest konnte ich in die Tonne kippen und vielleicht einen Teil davon noch im Sommer anziehen. Der Trend, dass zerrissene Klamotten gut ankamen, mochte alte Leute verärgern, aber half mir in dieser Notsituation aus. 

"Notsituation?" Würden sich jetzt die meisten Fremden fragen, die meiner Geschichte zum ersten Mal lauschten. "Es gibt weitaus Wichtigeres als Klamotten, du hast einen ganzen Schrank voll damit, Mädchen!" Nein, den hatte ich nicht. Nicht mehr. Kein Taschengeld, keine anständigen Klamotten. Aber zum Glück einen übergroßen Anorak, der mich normalerweise warmhielt. Normalerweise. Heute Abend meinte es der Winterwind nicht gut mit mir. Wenn sich jetzt auch noch Schnee zu ihm gesellen würde, hatte ich ein ernsthaftes Problem. 

Wie viel Grad mochte es haben? Unter null? Nein, sonst wäre die Straße an manchen Stellen zugefroren. Ich mochte zwar keine gute Biologie Note haben, aber das wusste ich auch noch. Oder war es das Fach Chemie, in dem das Schülern beigebracht wurde? Keine Ahnung. Ich stand noch nie auf Naturwissenschaften. Kunst, Englisch und Deutsch lagen mir mehr, aber wen juckte es? Ich stand ja laut meinen Eltern eh immer nur auf die "schlechten Sachen". Gedankenverloren reichte ich herunter zu meinem Rucksack und klopfte ihn sauber. Die Spuren, die der Matsch hinterlassen hatte, waren nicht zu übersehen. Besonders nicht an einem schwarzen Rucksack. Zum Glück hatte ich mir damals keinen weißen gekauft. 

Wenn ich doch nur Wasser hätte... Nein, doch nicht so! Nein, nein, so hatte ich es das nicht gemeint! Was der Grund für meinen Nervenzusammenbruch war? Man hatte mich erhört. Allerdings hatte ich mir einen Eimer Wasser und nicht eine eiskalte Regendusche gewünscht! 

Blitzschnell presste ich mich an die Wand, um unter den überdachten Teil des Hinterhofes der Kneipe zu kommen. Gott sei Dank traute sich keine Menschenseele außer Mitarbeiter des Lokals hierher, da hier anscheinend vor x Jahren zahlreiche Kindermorde begangen worden waren. Warum ich hier war? Erstens glaubte ich nicht an Gerüchte, zweitens war ich 17 Jahre alt und somit kein Kind mehr. Drittens: Ich hatte keine andere Wahl. Lieber in dunklen Gassen ausharren als durchs Dorf gejagt zu werden. Man möchte glauben, dass Leute der zehnten Klasse, Leute in meinem Alter, mittlerweile reif genug waren, um zu verstehen, dass nicht jeder dem Ideal eines heterosexuellen, weißen Mädchens entsprach, das so schmal war, dass Winde wie dieser leichtes Spiel mit ihr hatten. Vor meinem geistigen Augen wurde eine der Realschulzicken vom Dezemberwind mehrmals durch die Luft gewirbelt, bevor sie von einem der Blitze eines Gewitters getötet wurde. Brutale Gedanken? Ich? Niemals! 

Ich würde das nie jemandem wünschen, aber aktuell hatte ich eine solche Wut auf die Perfektionistinnen der Realschule, dass ich kurz davor war, im Reichenviertel Amok zu laufen. Mit einer Spritzpistole. Mit Gift statt Wasser. Sie erst zum Lachen bringen und dann ihnen zusehen, wie sie langsam nach einander litten und starben. Okay, okay, ich hörte ja schon damit auf! Ich wusste, dass es falsch war. Aber Emilia hätte es niemals jemandem sagen dürfen! Es. Mein großes Geheimnis, das nicht umsonst so hieß. Schon gar nicht meinen Eltern! Mir wäre jede Prügelei lieber gewesen als ein folgendes Schweigen, dass den Kloß in meinem Hals mit jeder Sekunde, in der nicht gesprochen wurde, wachsen ließ. Weswegen hatte sie es gesagt? Es blieb ein Mysterium. Aber dass ich ihr gerade am liebsten eine langen würde, war keins. Garantiert schlief sie gerade in ihrem weichen Wasserbett, während ich mir hier draußen die Knochen abfror!

Ich atmete tief ein und wieder aus. Ruhig Blut, Styx, ruhig Blut. Es nützte keinem etwas, wenn ich schrie. Obwohl ich es gern tun würde. Aber ich wollte nicht auffallen. Wenn einer der Mitarbeiter spitzkriegte, dass ich mich hier versteckte, war die Hölle los. Außer bei Nick. Der war ganz okay. Wer gefühlte drei Jahre lang als Flüchtling vor der Grenze Deutschlands auf Einreisebestätigung gewartet hatte, verstand meine Situation besser als weißhäutige Männer, die ein gescheites Dach über dem Kopf und alle Rechte der Welt besaßen. Ich fuhr mir mit meinen rauen Händen durch das inzwischen leicht feuchte Haar und hielt meine Strähnen beisammen, bevor ich das Wasser aus ihnen rausquetschte. Gleichzeitig bahnte sich die Kälte erneut den Weg durch meinen Anorak und meine Klamotten hindurch auf meine Haut. Ich nieste auf und zitterte danach. Aber nicht nur aufgrund des Wetters. Hatte mich jemand bemerkt? War ich zu laut gewesen?

Panisch schaute ich mich nach allen Seiten um, hatte ich da nicht etwas gehört? Waren das Schritte? Instinktiv hielt ich die Luft an, während ich zeitgleich die Ohren spitzte. Sobald ich bemerkte, dass mir meine Paranoia wieder einen Streich gespielt hatte, atmete ich leise und tief aus. Puh...

Nichts außer meinem schnellem Atem, der sich nach wenigen Sekunden beruhigte, war danach zu hören. Stille. Jedoch hielt sie nicht lange. Nach wenigen Minuten wurde ich aus meinem Halbschlaf oder Halbstarre - jeder bezeichnete es so wie er wollte - geweckt: Und zwar von einem ohrenbetäubenden Aufquietschen von Reifen, das aus Nähe der schärfsten örtlichen Kurve wie eine Warnsirene an meine Ohren drang. Verdammt! 



Dezemberwind (GirlxGirl)Where stories live. Discover now