02.12.2019, 04:09 Uhr

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Ich wusste nicht, wie lange ich schon verbissen die abstrakten Gemälde vor mir betrachtete hatte. Lange genug, um irgendwann einzusehen, dass sie für mich keinen Sinn ergaben. Wer hatte die denn gezeichnet, ein Fünfjähriger? Vielleicht aber auch irgendeine bedeutende historische Figur. Oder das Personal des Krankenhauses oder irgendein Kauz in der Verwaltung hatten ein Seminar über die psychologische Bedeutung von Farben besucht und wie meine Mutter den Schwachsinn vernommen, dass bestimmte Farben Leute fröhlich machen. Anscheinend sollte das die Farbe orange vollbringen. Mein ganzes Zimmer war früher knallorange gestrichen gewesen, weil irgendjemand meinen Eltern geraten hatte, dass das helfen würde, mich als Kind "lebendiger" zu machen. Viel bewirkt hatte es nicht. Jedenfalls nicht im positiven Sinne. Ich hasste seitdem orange und hatte mich weiterhin hinter meinen Büchern in meinem Zimmer vergruben, gedanklich weit weg von dieser Welt. Auch jetzt noch bevorzugte ich Bücher statt menschlichen Kontakt. 

Deswegen wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine Fantasy Buch Reihe und eine Bibliothek, die die langweiligen Klatsch und Tratsch Magazine auf dem Glastisch und das mit Leuten vollgestopften Wartezimmer ersetzen könnten. Und vielleicht noch einen vernünftigen Snackautomaten, der auch mal Süßigkeiten oder Ähnliches auswarf. Feindselig starrte ich auf den in der Ecke stehenden Kasten, der vor kurzem fast mein gesamtes Kleingeld verschluckt, aber keine Snacks von sich gegeben hatte. Okay, genug Gejammere! 

Ich musste irgendwie einen Weg finden, hier rauszukommen und nach der Unbekannten zu sehen. Ja, ich war doch am Unfallsort geblieben und hatte damit dem Drang widerstanden, einfach wegzurennen und im Innenhof der örtlichen Kneipe zu schlafen. Warum ich das getan hatte? Die Vorstellung, alleine verletzt und bewusstlos am Straßenrand zu liegen, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren und sorgte dafür, dass ich Mitleid mit dem Mädchen hatte. Deswegen verbrachte ich gefühlte Stunden damit, neben ihr zu hocken, die Uhr der gegenüberliegende Kirche anzustarren und jede fünfte Sekunde der verstrichenen Zeit zu ihr rüberzulinsen. Egal, wie müde ich war, ich hatte auf sie Acht geben müssen. Wer wusste schon, was sonst passiert wäre?

In meinem Kopf hatte sich ebenfalls dauernd der Dokumentarstreifen namens "10 Gründe, warum es gefährlich für Frauen ist, nachts rauszugehen", den ich gezwungenermaßen im Unterricht schauen musste, abgespielt. Wenn Rotsträhnchen genauso wie das halb unbewusste Mädchen im Film vergewaltigt worden wäre, hätte ich mir das nie verzeihen können. Also blieb ich wach, zwang meine Augen dazu, ihre Lider möglichst oft oben zu behalten. Und möglichst wenig auf meinen Augen. Weder Rotschopf noch ich selbst sollten draufgehen.

Irgendwann gegen 3 Uhr morgens hatten sie uns dann mit heulender Blaulichtsirene abgeholt. Mein verfrorener Körper war auf den Krankenwagen zugesprintet, als gäbe es kein Morgen. Ich erinnerte mich nur noch fetzenhaft an die Konversationen, die ich mit den Sanitätern geführt hatte:

 "Sind Sie Familienangehörige?" Ich schüttelte den Kopf. "Befreundet?" Mein Kopf  schaffte es, trotz der Müdigkeit, reflexartig zu nicken, bevor ich grinste. Mir war auf einmal eine dämliche Idee gekommen. Aber sie könnte funktionieren. "Ehrlich gesagt sind wir mehr als das." Der Sanitäter schaute mich perplex an. "Beste Freunde?" Seine weibliche Kollegin mit dem Kurzhaarschnitt musterte ihn schmunzelnd. "Ist das dein Ernst, Maz?" Maz' Kopf schnellte in ihre Richtung und schaute sie genauso verwirrt wie mich an. "Ja, natürlich. Was kommt denn sonst bei zwei Mädchen in Frage?" Ich sah ihrem Gesicht an, dass sie wie ich selbst kurz davor, loszuprusten. "Die zwei sind ein Pärchen, Dummerchen." "Oh." Maz schoss die Röte in die Wangen. "Entschuldigung. Mein Fehler." Ich lächelte ihm verständnisvoll zu. "Keine Sorge. Dienst um diese Zeit muss hart sein, oder?" Er seufzte auf. "Du hast keine Ahnung, wie hart." Nach seinen Worten schaute ich mir die beiden genauer an. Es brauchte keinen Detektiv, um an ihren Augenringen zu erkennen, dass sie weitaus mehr als acht Stunden Arbeit hinter sich hatten. 

Als Maz mich auf einmal entsetzt ansah, war ich verwirrt, aber verstand nach seinen nächsten Worten, was ihn plagte: "Hab ich sie gedutzt? Oh, nein, entschuldigen Sie, das wollte ich nicht tun!" Seine ehrliche Reue, sowie die Angst in seinen Augen, die einem völlig harmlosen Fettnäpfchen galt, erinnerte mich an ein Kind. Meiner Meinung nach machte das ihn um einiges sympathischer als die anderen Erwachsenen, die ich bisher kennengelernt hatte. "Kein Problem, wenn ich Sie duzen darf, sind wir quitt." Maz atmete erleichtert auf. "Da hast du ja nochmal Glück gehabt, Großer." Erwiderte seine Kollegin frech, woraufhin Maz zum ersten Mal konterte: "Du hattest genauso Glück, dass ich heute dabei war, sonst hättest du vor lauter Müdigkeit den Wagen zu Schrott gefahren!" "Das eine Missgeschick..." "Du hast in die falsche Richtung gelenkt! Ich fahre!" Und damit hatte er sich auf schon auf den Fahrersitz begeben, während die Frau beide Türen verschloss und den Gurt, mit dem das unbekannte Mädchen auf der Liege befestigt war. 

Apropos unbekannt...wie sollte ich vorgeben können, die Freundin des Mädchens zu sein, wenn ich nicht mal ihren Namen wusste? Ich musste doch die Daten im Krankenhaus angeben, damit das Personal in der Lage war, die Eltern zu benachrichtigen. Verdammt! 

Ich überlegte fieberhaft, wo sie schon mal gesehen hatte. In der Schule? Nein, dann hätte ich sie in der Pause draußen bereits auf dem Schulgelände erspäht. Nein, nein, das war es nicht. Nach einer Weile fiel mir ein, dass ich erst vor Kurzem mal wieder seit langer Zeit die Zeitung gewälzt hatte. Ein ganz bestimmter Artikel hatte nach dem Lesen mehrerer politischer Neuigkeiten meine Aufmerksamkeit geweckt. Plötzlich kam mir die Unbekannte auf einmal doch nicht so unbekannt vor. Und warum? Na, weil ich sie schon mal gesehen hatte. Und zwar nicht persönlich, sondern auf dem Foto, das zu dem Artikel, den ich mit hohem Interesse gelesen und mich trotzdem erstaunlicherweise nicht an die Einzelheiten erinnern konnte. Zu meinem Glück war mein Gedächtnis gut genug, um sich an den Namen zu erinnern, der unter dem Foto von dem Rotschopf und ihrer Familie gestanden hatte. Und sobald mich die Erkenntnis getroffen hatte, sprach ich ihn auch gleich laut aus: " Sie heißt Madelyn Strainswood." 

Kaum hatte die Erinnerung wieder mein Gedächtnis gestreift, zog ich schnell mein Ladekabel heraus und steckte ein Ende in eine Steckdose. Das andere Ende benutzte ich, um mein Handy aufzuladen. Sobald der Screen wieder aufleuchtete, nutzte ich das Krankenhaus-WLAN, für das ich vor wenigen Stunden von einer Schwester das Passwort bekommen hatte. "Madelyn Strainswood, Madelyn Strainswood..." Murmelte ich leise vor mich hin, während ich ihren Namen in Google eingab und den Suchbutton drückte. "Irgendwas muss doch über dich im Internet stehen, da du schon in der Zeitung zu sehen warst." 

Weswegen war sie überhaupt da drinnen gewesen? Normalerweise interessierte sich die lokale Zeitung keinen Deut über neu zugezogene Leute. Zu meinem Glück fand ich gleich einen Artikel, der ihren familiären Hintergrund beschrieb. Laut "der Zeit" war sie Tochter eines wohlhabenden Vaters, dem eine Fabrik gehörte und seinen Erfolg durch Investitionen in die richtigen Aktien ins Rollen gebracht hatte. Sobald es allerdings zu seinem Privatleben kam, musste ich schlucken. Der ganze Artikel verschwamm wortwörtlich vor meinen Augen, bis auf den Satz, der sich hundertmal in meinem Kopf wiederholte: "Miguel Strainswoods Fabrik spendet jährlich eine Unsumme an eine in Deutschland inzwischen verbotene Organisation "Christ Savior"." 

"Nein! Bitte mach, dass das nicht wahr ist!" Zischte ich stockend durch meine Zähne, bevor ich den Namen der erwähnten Organisation eingab. Als ich kurz darauf auf die Webseite von "Christ Savior" gelangte, stockte mir der Atem. Mein Herz schlug schneller, als ich unter den Hauptbeschäftigungen "Konversionstherapie" las. Sofort verwandelte sich mein ohnehin blasser Hautton in den Taint eines Zombies. "Scheiße, scheiße...was hab ich nur getan?" Fluchte ich leise vor mich hin, bevor mir die Tränen kamen. 



Dezemberwind (GirlxGirl)Where stories live. Discover now