03.12.2019, 10:29 Uhr

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Irgendjemand hatte mich dazu überzeugt, mit ihr frühstücken zu gehen. Und dieser Jemand war zu meiner Verwunderung die kurzhaarige Sanitäterin, die Madelyn und mich auf der Fahrt zum Krankenhaus begleitet hatte. Nach ihrem Namen hatte ich noch nicht gefragt, war aber ganz froh, als sie mein Anliegen mit dem Outing verstand und einer Schwester klarmachte, dass wir mich erstmal nur als "normale" Freundin von Madelyn abstempeln sollten. Da keiner von uns dreien wollte, dass ihre Eltern mit ihrer Tochter aus Deutschland raus- und irgendwohin fuhren, wo noch Konversationstherapie erlaubt war, war es zu einem einstimmigen Einverständnis gekommen, so vorzugehen. Ich fühlte mich jetzt etwas erleichterter, aber trotzdem immer noch schlecht darüber, dass ich weiterhin log, da ich nicht verneint hatte, dass ich Madelyns feste Freundin war. 

Als ich das Armband, das locker um das Handgelenk von dem Double von Ruby Rose - so nannte ich die Kurzhaarige, da ich wie gesagt keinen Schimmer hatte, wer sie war und sie der Orange is the new black-Schauspielerin verblüffend ähnlich sah - gebunden worden war, bildete sich plötzlich ein Lächeln auf meinen Lippen. "Little Mix Fan?" Die Sanitäterin schaute grinsend zu mir auf. "Definitiv. Hat sich das Armband sich schon wieder selbstständig gemacht und ist unter dem Ärmel meiner Berufskleidung wieder herausgekrochen?" Ich nickte, woraufhin sie es gleich wieder nach hinten schob, sodass ein Ärmel ihres grauen Shirts das Fanarmband verbarg. Danach strich sie sich verlegen durch die Haare, wobei ich zum ersten Mal die violette, einzelne Strähne bemerkte. Hmm. Komisch, dass mir das vorher noch nicht aufgefallen war. Sie hob sich wie ein Blitz im Gewitter von den restlichen, schwarzen Strähnen ab. 

"Also...bist du auch ein Fan der Gruppe?" Ich zuckte mit den Schultern. "Ein bisschen. Es wurde ärger, als mich eine Freundin, die ein noch größerer Fan ist, zum Konzert in Köln mitgeschleppt hat." Ruby Rose schaute mich verwundert an. "Warte...wann warst du?" "Im Juni 2016..." Meine Worte entlockten ihren Lippen ein Grinsen. "Du verarschst mich, oder?" "Nein!" Erwiderte ich gleich, bevor mein fragendes Gesicht sich zu einem Ausrufezeichen verwandelte. "Warte...warst du auch zur selben Zeit dort?" Die Kurzhaarige nickte. "Deswegen hab ich doch nachgefragt, Dummerchen." Plötzlich war sie auf einmal sehr still, was mich wieder nervös machte. An was dachte sie gerade? Dass sie nicht ihre Zeit mit einer Besucherin verschwenden und stattdessen mit ihren Freunden essen gehen sollte? Ich mochte es nicht, wenn andere Leute zu lange still waren. Das gab mir genug Zeit, etwas in ihre Stille hineinzuinterpretieren, das meistens sowieso nicht stimmte...oder doch?

Sobald sich wieder ihre dunkelrot bemalten Lippen wieder bewegten, lag meine Konzentration weniger auf meinen Zweifeln, sondern eher auf ihren nächsten Worten: "Es tut mir Leid, jetzt habe ich auch denselben Fehler wie Maz gemacht... Darf ich dich auch duzen?" Ich lachte auf vor Erleichterung und freute mich, dass wieder nur dieser unbedeutende Fakt Grund für ihr Schweigen gewesen war.  "Klar doch. Wie gesagt ist mir das Duzen tausendmal lieber als das Siezen." Sie lächelte. "Da bist du aber ganz schön locker im Gegensatz zu manch anderen Besuchern." "Soll heißen?" Fragte ich neugierig. "Soll heißen, ein alter Mann hat mir schon mit dem Rechtsanwalt gedroht, wenn ich ihm noch einmal so "herablassend" begegne." 

Ich schmunzelte wissend. "Lass mich raten: Er hatte vorher zu viel Betäubungsmittel oder ihm war langweilig." "Du wirst lachen..." Begann die Schwarzhaarige, woraufhin ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. "Werde ich das?" "Sei leise, Spielverderber. Und bevor du mich so schön unterbrochen hast..." Sie legte eine kleine Pause ein, um mir vorwurfsvoll zu mustern, worauf ich nur mit unschuldigem Lächeln antwortete.  "...wollte ich sagen, dass du mit beidem Recht hattest. Außerdem hatte er auch wahrscheinlich zu viel Geld." Ich lachte. "Woher weißt du das?" Sie grinste. "Kein Normalverdiener fährt mit Limousine zum Krankenhaus, oder?" Ich verkniff mir ein weiteres Grinsen. "Kann er noch extravaganter werden?" "Ja, denn er hat seinen violetten Zylinder niemals abgenommen. Nicht mal im Bett!" "Also ein Dagobert Duck in Menschenversion?" "Sch!" Sie hob warnend einen Finger vor ihren Mund, bevor sie leise kichernd sagte: "Das ist der Vater meiner Chefin." 

Ich schaute sie kurz an, dann sie mich. Als ihre Mundwinkel leicht zuckten, waren auch meine kurz davor, nach oben zu schießen. Ehe ich mich versah, hatte ich einen seltsamen Laut ausgestoßen, der sich als Mischung aus Prusten, Kichern und Quietschen beschreiben ließ. Ab diesem Punkt konnten wir uns beide nicht mehr vor einem Lachanfall abhalten. Auf einmal war uns egal, wer uns fragend oder verwundert anstarrte. Nach einer Weile lächelten uns sogar Schwestern mit ihren müde aussehenden Gesichtern zu, sicherlich froh darüber, dass in dem deprimierend aussehenden Schuppen auch mal Gelächter zu hören war. Wenn man sich von der Freude anderer anstecken lassen konnte, war das doch mal eine Infektion, die ihre Vorteile hatte.

***

Nach dem Warten in einer langen Schlange, die an den Tresen der Cafeteria mit der Essensausgaben entlang ringelte, saßen Möchtegern-Ruby Rose und ich an einem weißen Tisch mit grauen Stühlen. Er lag am Rand der Cafeteria und damit an einem der riesigen Fenster, die eine schöne Aussicht auf den Garten des Krankenhauses boten. Interessiert verfolgte ich mit, wie Gartenarbeiter die großen Büsche mit Blüten wässerten und wie eine Gruppe Leute in Rollstühlen gerade an einem Tisch Karten spielten. Obwohl sie in so eine Situation gekommen waren, konnten sie sich gegenseitig leicht zum Lachen bringen, man hörte es durch das Glas durch. 

"Worüber denkst du gerade nach?" "Wie heißt du eigentlich?" Meine und ihre Frage erklang zeitgleich, woraufhin wir beide lachten. "Du  zuerst." Meinte die Kurzhaarige, bevor ich meine Frage wiederholte. "Ich heiße Raelyn, aber du kannst mich auch Rae nennen. Und du?" "Styx." Erwiderte ich kurz angebunden. Bevor sie etwas anderes fragen konnte, meinte ich: "Du hast gefragt, worüber ich nachdenke. Ich habe mich gefragt, wie man im Rollstuhl noch so viel zu lachen hat." Rae schaute nach draußen. "Wie ich sehe, hast du unseren Club der Rollstuhlfahrer entdeckt, die hier ihre Freizeitaktivitäten abhalten. Sie nennen sich selbst übrigens die "Rolling Bones"." Ich musste schmunzeln, sobald ich den Namen hörte, das war ein guter Einfall. 

"Sie können sich hier sehr gut amüsieren, da sie in Gesellschaft von Leuten sind, die ihre Situation verstehen, da sie selbst durchleben." Sie schaute mich bedeutungsvoll an. "Sie haben Gemeinsamkeiten wie du und ich." "Gemeinsamkeiten? Haben wir die wirklich?" Fragte ich verwundert, woraufhin Raelyn antwortete: "Little Mix, guten Humor und eine Sache, die ziemlich eindeutig ist." "Die wäre?" Sie grinste mir zwinkernd zu. "Das wirst du schon noch erraten."

Erleichterung war kein Wort, um meine Stimmung beschreiben. Nun ging das Gespräch weniger auf meine Beziehung zu Madelyn, sondern eher auf andere Themen ein. Gott sei Dank. Ich wusste nicht, wie viel ich noch aus Google herausbekommen konnte. 

Die Erklärung, die ich Madelyn später schuldig sein würde, war hoffentlich ein Meisterstück an Ausreden und Lügen...die in meinem Hirn entstehen sollten? Na ja, ich hatte 17 Jahre lang erfolgreich vorgespielt, hetero zu sein. Mir würde schon etwas einfallen. Im übelsten Fall musste ich die Wahrheit sagen und würde wieder aus einem Haus hinaus geschmissen werden. Bis dahin konnte ich ruhig den Luxus bestehend aus funktionierenden Heizungen, Toiletten, einem Schlafplatz und Essen genießen. Ich wusste, dass ich mich schlecht über diese Aktion fühlen und die Lüge auflösen musste. Aber ein bisschen Flunkern, um mich selbst am Leben zu erhalten, konnte mir doch auch nicht schaden, oder?

War es selbstsüchtig? Ja. Würde ich jemanden damit in Gefahr bringen? Nein. Bis jetzt jedenfalls noch nicht... 




Dezemberwind (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt