04.12.2019, 01:16 Uhr

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Ich konnte immer noch nicht einschlafen. Deswegen hatte ich, wie die gute Fake-Freundin, die ich war, darum gebeten, Madelyn in ihrem Zimmer besuchen zu dürfen. Irgendwann wäre mein Desinteresse aufgefallen...warte nein, so konnte ich es nicht nennen. Ich war nicht desinteressiert, im Gegenteil. Gerne passte ich solange wie möglich auf Rotschöpfchen auf. Und wenn ich im Zimmer war, würde ich auch gleichzeitig dem Krankenhauspersonal Zeit geben, andere Patienten zu besuchen oder mal eine Pause zu machen. Die Krankenschwestern kamen mir schon wie Zombies mit ihrer blassen Haut und den tiefen Augenringen vor. Warum man so viel Arbeit in etwas hineinsteckte und so wenig Gehalt dafür bekam, war mir ein Rätsel. Fachkräfte für Pflege und in Krankenhäusern sollten meiner Meinung nach dasselbe wie Lehrer verdienen, da sie genauso sehr von der Menschheit gebraucht wurden. 

Zurück zum eigentlichen Thema: Warum ich mich gerade in einem eintönig weißen Zimmer mit Grautönen in der Form von Stühlen und einem Tisch aufhielt. Nächster Grund dafür: In diesem Raum war ich für eine Zeit lange sicher vor neugierigen Blicken und Fragen. Also vor Leuten. Na ja...mit der Ausnahme von Madelyn. Aber ob die so schnell aufwachen würde, darüber war ich mir nicht sicher. Raelyn hatte Dienst und ich mein Handy wieder. Alle 100 Prozent erfreuten sich wieder bester Gesundheit. Also stand alles gut. Ich konnte telefonieren und gleichzeitig auf Madelyn aufpassen. Perfekto. 

Warum ich die nächste Aktion machte, verstand ich auch nicht so ganz. Ich konnte euch nur erzählen, dass ich alles wie automatisch getan hatte, ohne mir dabei einen Kopf zu machen, den ich mir mit Rückblick auf das Ganze durchaus hätte machen sollen. Meine Finger scrollten wie von alleine durch meine Kontaktliste, bis ich am Buchstaben E angelangt war. Sofort drückte ich auf den Anrufbutton neben dem Namen Emilia Finderling. Ob ich wusste, dass es mir nichts bringen würde? Ja, das tat ich. Ob ich trotzdem ihre Stimme hören wollte, wann immer ich mich in einer brenzlichen Lage befand? Dass ich mir dadurch ein Gefühl der Sicherheit versprach? Ja! Das erwartete man eben von Freunden. Besonders von besten Freunden. Und ganz besonders von Leuten, in die man verknallt war. Selbst wenn sie etwas unaussprechlich Dummes gemacht und mir damit wehgetan hatten. 

Aber in diesem Fall wollte ich mehr als Sicherheit. Ich wollte verdammt nochmal einen Grund, warum sie mich bei meinen Eltern verpetzt hatte. Was brachte ihr das denn? Wollte sie mir absichtlich wehtun? Diesen Gedanken wollte mein gutgläubiges Herz gleich wieder beiseite schieben, aber mein Gehirn war nicht so sicher, ob das doch nicht der Fall sein könnte. Deswegen blieb der Satz wie ein riesiges, unausgesprochenes Fragezeichen in meinem Kopf, den ich bisher versucht hatte, zu ignorieren, aber es letztendlich doch nicht geschafft hatte. Und genau deswegen wählte ich Idiot gerade die Nummer an, die ich mittlerweile schon auswendig kannte. Tut, tut, tut...ich begann, mitzuzählen, wie oft das Geräusch erklang. 

Wie immer hörte die Wartezeit für den Anrufer schon beim zwanzigsten Tuten auf und Emilias kristallklare Stimme ertönte: "Sorry, vermutlich bin ich gerade beschäftigt und wenn du es mal wieder bist, Oliver, dann bin ich doppelt beschäftigt! Ruf mich nicht mehr an, sondern rede mit mir, wenn du Mist gebaut hast!" Ich musste bei den letzten zwei Sätzen schmunzelten, das Verhältnis der beiden Finderling-Geschwister war etwas seltsam. Ständig waren sie entweder am Streiten oder "Best Buddies". Beide teilten die Leidenschaft für Videospiele und Markenklamotten. Letztere Vorliebe erzählte Emilia dem Rest ihrer Freunde eher als die Erste, da sie nicht als "Gamer" oder "Zocker" definiert werden wollte. Seit dem Tag, als ich ihr erzählt hatte, dass ich ebenfalls Overwatch am laufenden Band spielte, waren wir ständig abends verabredet gewesen, online miteinander zu spielen und uns lustige Geschichten aus der Gegenwart und der Vergangenheit zu erzählen. Auch bei dieser Art von Beziehung verstand ich nicht, wie sie so schnell und einfach wegen einem Fakt geendet hatte. Im Endeffekt war es nicht ich, sondern sie gewesen, die eines Abends... 

Ich atmete tief ein. Nein. An diesen Abend erinnerte ich mich jetzt nicht. Nicht schon wieder. War ich so hoffnungslos verliebt, dass ich nur noch an sie dachte? "Ja." Antwortete mein Unterbewusstsein automatisch, woraufhin ich genervt aufseufzte. Nein. Das konnte ich nicht. Jetzt doch nicht mehr! Kein Mensch war so dumm und mochte weiterhin jemanden, der einen verletzt hatte...oder? Ja, doch. Das tat er. Genug Erzählungen von Trennungen meiner Freunde hatten ausgereicht, um das zu bestätigen. Meistens hatte er Schluss gemacht und sie hatte immer noch Gefühle für ihn. Meine Situation war keine Trennung, aber die Auswirkungen waren dieselben. Herzschmerz, die Lust zum Frustessen und die vielen mit "Warum" beginnenden Fragen, die mich heimsuchten. 

"Und für Stazy gilt dasselbe." Ich zuckte kurz zusammen, als ich meinen vollen Namen hörte. "Ruf mich nicht an, sondern sprich mit mir! Ich will dich sehen, Dummerchen." Bei diesem Satz huschte ein verträumtes Lächeln auf meinen Lippen. Sie hatte diesen Teil ihres Anrufbeantworters immer noch nicht geändert. Mein Herz schmolz dahin, während mein Kopf kritisch die Situation beäugte und die Frage bildete: "Wieso eigentlich?" Gute Frage. Während ich mir darüber den Kopf zerbrach, fuhr der Anrufbeantworter surrend fort: "Für die anderen gilt: Dienstags und Donnerstags hab ich abends Tennis. Außerdem bin ich wie gesagt eine viel beschäftigte Frau." Ich kicherte. Egal, wie oft ich mir schon diese Stelle angehört hatte, sie brachte mich immer noch zum Lachen. Das war einfach typisch Emilia. Ein laufender, schnippischer Zeitplan. Oder wie sie andere auch nannten: Wichtigtuerischer Kontrollfreak. Ich persönlich fand ihre Angewohnheit, stets ehrlich zu sein, erfrischend, da ich es nicht mochte, angelogen zu werden...allerdings brachte diese bei Geheimnissen wie meinem schlechte Folgen mit sich. 

"Wenn ihr geduldig genug wart, es bis zu dieser Stelle zu schaffen: Glückwunsch! Hinterlasst eine Nachricht nach dem nervigen Piepston und ich antworte sobald wie möglich." Als der besagte Piepser erklang, fing ich gleich an, loszureden: "Hallo Emilia. Ich brauche meinen Namen nicht zu nenne, ich weiß ganz genau, dass du noch schlau genug bist, meine Stimme wiederzuerkennen. Und wenn du erwachsen genug bist, wirst du mir auch auf die Nachricht antworten. Ich weiß nicht, wie viele Nachrichten ich dir schon hinterlassen habe. Ehrlich gesagt bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich mir gar nichts erklären kann. Was du getan hast, weswegen du es getan hast und so weiter und so fort. Wie gesagt: Wenn du erwachsen genug wärst, würdest du dich der Sache stellen, die letzten Freitag passiert ist. Hier ein paar falsche Antworten für dich:..." 

Ich holte tief Luft, bevor ich fortfuhr: "Nummer eins: Ich war so betrunken, dass ich nicht wusste, was mit mir los war. Das ist die unglaubwürdigste der Antworten, da ich angetrunken und du auch nur ein Bier hattest, von dem dir noch nie die Hirnzellen geklaut wurden. Numero zwei: Ich war verwirrt und wusste nicht, was ich da getan habe. Wieder eine Nummer zum Lachen. Du wusstest sehr wohl, was du mit mir angestellt hast." An diesem Punkt musste ich schwer kämpfen, um meine Tränen, sowie meinen Tonfall unter Kontrolle zu behalten. "Nummer drei: Es war nur ein Experiment. Jetzt lass mich dir eine Sache sagen: Wenn du schon willig warst, das auszuprobieren und über eine Stunde lang damit weitergemacht hast, war es das schon lange nicht mehr. Behandele andere Leute wie das, was sie sind: Menschen. Und nicht deine Versuchskaninchen. Neben deiner Erklärung für letzten Freitag erwarte ich auch eine für Sonntag. Wieso hast du es meinen Eltern erzählt? Wieso..." 

Gerade, als ich mich so richtig in Rage geredet hatte und die erste Träne drohte, meinem rechten Augen zu entweichen, wurde ich von einem weiteren Piepser unterbrochen. Ich hatte vermutlich das Zeitlimit überschritten. Zittrig atmete ich Luft ein, während die Tränen, die ich zurückgehalten hatte, unkontrolliert nacheinander oder miteinander über meine Wangen flossen und mein erhitztes Gesicht kühlten. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, bevor ich es wagte, leise Schluchzer auszustoßen. Seit Langem blieb mir wieder Zeit, genau das herauszulassen, was mich seit Tagen plagte. Wie sehr konnte ich Menschen nach so etwas noch vertrauen? Wie konnte ich mit dem Schmerz klar kommen? Wo konnte ich nach dieser Aktion hin? Wo würde ich leben? Würde ich überleben? Allein die letzte Frage war Grund genug für mehr Tränen, bevor ich frustriert gedankenlos mein Handy in Richtung Bett schmiss. 

Plötzlich hob sich im Schein des Mondlichts aus dem Schatten eine Hand, die das Gerät sofort auffing. Verdattert blinzelte ich so oft, bis ich alles vor mir nicht mehr verschwommen, sondern deutlich und klar wahrnehmen konnte. Trotz aller Kniffe, die ich mir mit meinen Fingern verpasste, war das, was vor meinem Auge geschah, immer noch real. Aber ich war einfach sprachlos. Selbst in dem Moment, als die Nachttischlampe angeknipst wurde und Madelyns waches Gesicht zum Vorschein kam. Ihre Augenbrauen hoben sich überrascht, bevor ihre graugrünen Augen mich neugierig musterten. "Sieht so aus, als ob nicht nur Emilia etwas erklären muss."




Dezemberwind (GirlxGirl)Where stories live. Discover now