02.12.2019, 0:00 Uhr

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0:00. Umgangssprachlich ausgesprochen als 12 Uhr nachts. Es hieß 24 Uhr, wenn man als einer der Besserwisser dieser Welt geboren worden war. Wurden nur solche unausstehlichen Leute Lehrer? Bis jetzt schien es so. Egal, ich kam schon wieder komplett vom eigentlichen Thema ab. Kanntet ihr diesen einen Moment, wenn ihr komplett außer Atem irgendwo hinreden wolltet, das Blut in euren Ohren pulsiert und ihr kaum zu Atem kommt? Natürlich kanntet ihr ihn. Jeder von uns musste schon mal den 100 Meter-Lauf in der Schule laufen. Selbst wenn ihr Leistungssportler wart...jeder musste mal klein anfangen. Ich wünschte mir nur manchmal, nicht die Kondition einer 80jährigen Frau mit Krückstock zu haben. Gerade in Situationen wie dieser. Ich hörte keinerlei Sirenen und sah keine Spur von Blaulicht, nur das spärliche Licht von Laternen, durch das ich, wie durch einen leuchtenden, nebligen Dunst rannte. Ohne zu zögern sprintete ich geradeaus auf die Straße zu und behielt mein Tempo bei, bis ich die andere Seite und damit auch das rote, stehende Auto erreicht hatte. 

Mein Überlebenssinn schrie mir hundertmal so etwas wie "Styx, geh sofort von der Straße runter! Jeden Moment könnte ein weiteres Auto kommen und dich anfahren!" Ja, aber dasselbe Schicksal würde auch das Mädchen erleiden, dass ich auf dem Fahrersitz entdeckte. Ihr rotblondes Haar fiel über ihren Kopf und bot teils eine Art Kissen auf dem Lenkrad, dessen Rand damit beschäftigt war, sie nicht komplett zu Boden sinken zu lassen. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich den aufgeblasenen Airbag und atmete erleichtert aus. Gott sei Dank...

Aber trotzdem war immer noch nicht als in Butter. Nicht, so lange ich noch untätig in der Gegend herumstand. Rasch kramte ich eine Nagelfeile aus meinem Rucksack und macht mich an die Seitentür neben dem Fahrersitz. Innerhalb von wenigen Sekunden schnappte die Tür auf und es dauerte genauso lange, bis ich mich hineingebeugt und an ihrem Gurt gerüttelt hatte. Irgendwann kam ich doch zum Schluss, dass mir meine Panik nichts brachte und ich logisch denken musste. Okay, wo war dieses viereckige Ding, in das Leute immer das metallische Ende des Gurts steckten? Lag sie vielleicht darauf? Als ich es nach ewig scheinendem Suchen immer noch nicht finden konnte, beantwortete ich selbst die Frage mit einem Ja. Als ich ihr Handgelenk berührte, spürte ich zu meiner Erleichterung noch einen langsamen, aber aktiven Puls. Puh...

Dieser Abend blieb voller Überraschungen. Leider im negativen Sinne. Aber das könnte sich ändern, wenn ich es schaffen konnte, der Fremden noch rechtzeitig aus der Klemme zu helfen! Sie schien nämlich, ihren zugeschlossenen Augen nach zu urteilen, nicht wirklich ein kurzes Schläfchen zu machen, sondern bewusstlos. Ich schüttelte seufzend den Kopf, was hatte dazu geführt? Eine betrunkene Spritztour? Drogen? Ein Autounfall? Wenn Letzteres der Fall war, dann war der andere Fahrer ein gewaltiges Arschloch, da man als Beteiligter im Autounfall an der Unfallstelle bleiben musste, bis der Notruf, sowie die Polizei kam und alle Daten aufnehmen konnte. So viel wusste ich noch aus meinen Fahrschultheoriestunden, die ich vorerst nicht mehr aufnehmen würde. Wie auch, wenn sie niemand mehr bezahlte?

Um den Führerschein weitermachen zu können, würde ich hart arbeiten müssen. Geld verdienen war angesagt seitdem die eigenen Erzeuger sich weigerten, an dem Leben ihres Kindes teilzunehmen. Ich atmete zitternd ein und wieder aus, während ich eifrig daran arbeitete,  meine Tränen zurückzuhalten. Eine verschwommene Sicht oder Gefühlsduseleien würden weder mir noch der Rothaarigen aus der misslichen Lage helfen, in der wir uns gerade befanden. Meine nächste Überlegung überzeugte mich dazu, die Fremde etwas beiseite zu ziehen, sodass ich einen guten Blick auf den ganzen Gurt hatte. Zu meinem Pech kippte sie gleich, wie ein übergroßes Kuscheltier nach vorne. Blitzschnell umschloss ich einen meiner Arme um ihre Taille und bettete ihren Kopf auf meinem Bauch, während ich das silberne Ende des Gurtes aus dem viereckigen Kasten ziehen wollte.

Immer noch keine Reaktion. Ich drückte an jeder Stelle des Kasten, rüttelte am schwarzen Gurt, aber nichts tat sich! Kurzerhand fasste ich einen Entschluss, für den ich vielleicht wegen Beschädigung angezeigt werden könnte. Wieder kam ein Teil des Inhalts meines Nägeletuits zum Einsatz, dieses Mal die kleine Schere. Schnipp schnapp, so leicht trennte das Werkzeug das Einzige, was die Fremde an ihr Auto kettete. Wenige Sekunden lang starrte ich den zerschnittenen Gurt an, bevor ich sie, mit Mühe und einem hörbaren Keuchen hochlupfte. Während ich mit dem Mädchen, dass so viel wie mehrere Mehlsäcke zu wiegen schien, die Straße hinunter lief, konnte ich nicht anders, als kurz nach unten zum schlaffen Körper herunterzuschauen. Bis jetzt hatte ich mich kaum auf sie selbst fokussiert, sondern eher auf potenzielle Strategien, wie ich sie befreien konnte. Ihre Haare waren gefärbt, das erkannte ich schon auf den ersten Blick und den Besuchen bei vielen Frisören, die klagten, dass ich mir durch das Ausprobieren aller Farben des Regenbogens bald meine Haare kaputtmachen würde. 

Die Sommersprossen auf ihren Wangen und der Nase waren süß, sie ließen sie etwas frecher aussehen, als sie mir erst erschienen war. Außerdem waren ihre sanften Gesichtszüge nicht etwas, was ich als maskulin bezeichnen würde. Sie wirkte so seltsam friedlich, wie ein Kind, dass in aller Seelenruhe dahinschlief und bewusst die Welt ignorierte. Zu Letzterem verspürte ich tatsächlich auch den Drang, aber ich musste mir immer noch einen Platz zum Schlafen suchen. Ich konnte nicht einfach im Innenhof der Kneipe einpennen...oder doch? 

Meine Gedanken wanderten wieder zu dem kleinen Schuppen in der Ecke des Hofes, der mehr einem Klohäuschen als einer Hütte glich. Hm. Einen Versuch war es wert. Hauptsache, ich hatte ein Dach über dem Kopf. Und wieder waren meine Gedanken ganz woanders. Zurück zur jetzigen Situation: Was sollte ich mit ihr machen? In den Schuppen passte nur eine Person rein. Aber hier draußen würde sie erfrieren! Scheiße, was sollte ich tun? Wieso war ich immer so selbstsüchtig? Sie hatte es verdient zu leben, da sie vielleicht von mehr Leuten gemocht wurde als ich! Nein, nicht nur vielleicht, sondern ganz wahrscheinlich! Seit heute Morgen hatte ich das Gefühl, von der ganzen Stadt gehasst zu werden. 

Kaum waren meine Gedanken wieder zu einem anderen Thema gewandert, schaltete sich zu ihrem und meinem Glück wieder ein Einfall ein. Ich legte den Rotschopft betont vorsichtig auf dem Gras neben dem Gehweg ab und holte mein Handy raus. Kaum war der Notruf gewählt, meldete sich schon eine Frauenstimme am anderen Ende und nannte in müder Stimme ihre Personaldaten. "Wie können wir Ihnen weiterhelfen?" Mechanisch sprach ich alle nötigen Worte aus, bevor ich auflegte und mich neben das Mädchen setzte. Ich stupste mehrmals mit dem Zeigefinger ihre Wangen an, aber nichts half. Selbst das Rütteln des Kopfes nicht. Nach mehreren Wiederbelebungsmaßnahmen gab ich es auf und starrte den sternenlosen, schwarzen Himmel an, bis dieser von leuchtenden Sirenen aufgehellt wurde. Mein Zeichen zu gehen. Denn wie gesagt: In dieser Stadt hasste mich jeder, da ich hier einfach nicht erwünscht war. 

Dezemberwind (GirlxGirl)Where stories live. Discover now