Die Waage

727 57 2
                                    

Heute ist Samstag.

Samstag.

Samstag bedeutet Wiegetag. Ich hasse den Wiegetag. Oskar, so kommst du hier bestimmt nicht raus. Oskar, so wird das nichts. Ich kenne alle ihre Sätze. Alle. Allerdings erbringen sie nicht die gewünschte Wirkung.

Ich streiche mir mit der Hand über den Bauch. Ich kann jede einzelne Rippe fühlen. Und das Fett, das noch auf ihnen liegt. Mit etwas stolz erfühle ich weiter unten meine spitzen Hüftknochen. Sie stechen quasi so hervor. Kein Gramm Fett, auch wenn sich auf den Hüften das Meiste ablagert. Meine Augen wandern im Spiegel zu meinen knubbeligen Knien. Im Vergleich zu meinen schlanken Beinen, bis auf die Oberschenkel natürlich, wirken sie viel zu groß und unpassend. Als hätte man sie hinein operiert. Meine Zehen knacken als ich mich auf meine Ballen stelle, um meine Knöchel zu sehen. Ich seufze zufrieden und streiche mir über den Arm, um letztendlich zu testen wie weit ich mit der Hand um mein Handgelenk fassen kann.

Nicht weit genug. Ich seufze erneut. Ich muss noch weniger essen. Allein wegen meiner zu fetten Oberschenkel.

Ich beiße mir auf meine sowieso schon offene Unterlippe. Ich würde jetzt viel klüger vorgehen müssen, denn sie kontrollieren ja eh schon alles was ich mache.

Meine Augen werden glasig und ich muss schlucken.

Du bist so eine Heulsuse, Oskar! Fett und eine Heulsuse! Peinlicher geht es ja nicht.

„Hör auf..", murmle ich leise zu mir selbst, während ich das Bad verlasse und mir meinen rosafarbenen Pullover anziehe. Schließlich greife ich mir noch meine Decke und lege sie eng um mich. Obwohl die Sonne scheint ist es verdammt kalt.

Es klopft und eine Schwester, Schwester Lena, öffnet die Tür. Ich sitze auf meinem Bett im Schneidersitz, in meine Decke eingewickelt. „Hallo Oskar", sagt sie freundlich und schenkt mir ein Lächeln. Dann hält sie mir ein Buch hin. „Ich hab dir wieder was mitgebracht", fügt sie dann hinzu und sieht sich verstohlen um. Als dürfe sie das nicht. Ich mag Schwester Lena. Sie gehört zu den wenigen, die nicht dauernd auf meinem Gewicht herum hacken.

„Danke", erwidere ich, nehme das Buch entgegen und halte es wie einen Schatz bei mir. „Heute ist Samstag, Oskar. Wir müssen", sagt sie dann leise seufzend. Ich nicke nur und lege das Buch beiseite.

Ich tapse ohne Decke hinter ihr durch den Flur. Ich habe die Arme eng um mich geschlungen und beiße die Zähne zusammen. Aber es ist so kalt.

Vor der Tür zur Waage stehen schon zwei weitere Patienten. Ich glaube, sie haben sich in der Therapiestunde mit Liesa und Clara vorgestellt. Sicher bin ich mir aber nicht.

Wir wechseln kein Wort und als Liesa dran ist wirft sie Clara einen vielsagenden Blick zu, der mir natürlich nicht verborgen bleibt. Sie schummelt.

„Oskar, jetzt zier dich nicht so und zieh deinen Pullover aus", sagt die Schwester an der Waage. Nur widerwillig ziehe ich mir den Pullover über den Kopf. Ich hasse es wenn andere meinen Körper sehen. Mit einem deutlichen Murren steige ich auf die Waage.

Die Luft ist zum zerreißen gespannt.

>>Ich muss weniger essen<<, dass ich den Gedanken später nicht mehr habe, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst..

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt