Der Wille zum Leben

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Ich bin noch nie auf der Onkologie gewesen. Auf der Station, auf der die ganzen Patienten leben, die an Krebs erkrankt sind. Ich bin noch nie da gewesen. Was hat so einer, wie ich es bin, dort auch verloren. Ich habe sicher ganz andere Probleme auch wen Krebs vielleicht, aus gewissen Perspektiven betrachtet sicher ein leichter zu händelndes Problem gewesen wäre. Ich bin hier auch noch nie zu Besuch gewesen. Meine Familie, oder das was davon noch übrig ist, ist mit dem Glück gesegnet nie einen Krebskranken im Stammbaum zu haben. Und auch sonst hat keiner plötzlich Krebs bekommen. Aber wenn es so wäre, dann wäre er sicher hier gelandet. Hier in meinem Krankenhaus auf der Station für Onkologie. Krebskranke.

Mein Blick wandert vom allseits bekannten Krankenhaus Laminatboden die unnatürlich gelb fröhlich wirkenden Wände, über die Türen, den Gang hinunter und wieder zurück zum Boden. Nein, die Station ist schön gestaltet, keine Frage. Sie soll den Erkrankten ein leichtes Lächeln ins Gesicht zaubern. Zumindest lassen die Bilder, mit den Sprüchen, an den Wänden darauf schließen.

Ein Regenbogen kann nur mit Regen entstehen.

So in der Art sind die Sprüche formuliert. Dabei ist Krebs sicher nicht mit einem einfachen Sommerregen bei Sonnenschein zu vergleichen. Trotzdem finde ich es schön, dass sich jemand versucht die Leute fröhlicher zu machen.

Ich setze einen Fuß vor den Anderen und ziehe mir dabei die Ärmel meines grauen Pullovers, mit einem skizzierten Dinosaurier vorne drauf, über die Handflächen. Nach und nach gehe ich die Zimmernummern durch, die an den Wänden direkt rechts neben der Tür auf einem kleinen weißen Schildchen stehen.

3.019

Ich hebe den Kopf und werfe einen Blick auf das Schildchen neben der Tür, vor der ich stehe. 3.011. Es ist nicht einmal ein Patientenzimmer, sondern viel mehr so etwas wie eine Abstellkammer. Immerhin bin ich nicht mehr all zu weit von seinem Zimmer entfernt. Sein Zimmer, wo man ihn hingebracht hatte, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als ich an den Moment zurückdenke. Wie ich neben seinem Bett auf der Intensivstation sitze und in seine blaugrauen Augen starre, die mich verwirrt zurück anstarren. An sein kratziges Hey und seine humorvolle Frage nach meiner Stimme. Und schon wieder bildet sich ein Kloß in meinem Hals, als ich die Erinnerung weiterverfolge.

>>Ich muss gehen.<<

Das hat er gesagt und er hat recht. Er hat es da nicht zum ersten Mal gesagt. Wie oft haben wir an unserem nächtlichen Geheimplatz über den Tod und das Sterben unterhalten und dass er eigentlich keine Wahl mehr hat. Doch ich habe nie glauben wollen, dass er an Krebs verstirbt. Und auch jetzt schiebe ich den Gedanken gewaltsam von mir fort. Er wird mit mir das Krankenhaus verlassen. Wir werden gemeinsam aus der Eingangshalle hinaustreten. Wir werden die frische Luft in unsere Lungen einsaugen. Wir werden uns ansehen und wir werden lachen. Dann werden wir einander nach den Händen greifen und gemeinsam den Parkplatz und somit das Krankenhausgelände verlassen. Wir werden in die Stadt gehen und wir werden ein Eis essen gehen. Ja, ich werde ein Eis essen gehen. Mit ihm. Und wir werden uns freuen und uns darüber unterhalten, dass wir beide es doch geschafft haben und dass wir das ohne die Unterstützung des Anderen niemals so gut geschafft hätten. Wir werden einander anlächeln. Vielleicht werden wir auch ins Kino gehen und den neuesten Film gemeinsam ansehen. Mit Popcorn und einer richtigen Cola! Keine Cola Light oder Zero. Kein Wasser mehr. Eine richtige Cola. Und dann werden wir uns nach dem Film umarmen und auf dem Weg, den er mich nach Hause begleitet, werden wir uns über den Film unterhalten und dann werden wir vor meiner Haustür stehen und.

Wir werden das Krankenhaus gemeinsam verlassen. Er und ich. Zusammen.

Ich schlucke den Kloß hinunter und sehe auf.

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Dass er einen ähnlichen Traum hegte, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.

In 2 Monaten bist du tot!Where stories live. Discover now