Die Umarmung

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Ich schlinge meine Arme um meinen Oberkörper und schlucke leicht. Mit zitternden Knien laufe ich Richtung Speisesaal. Der verhassteste Ort in meinem Leben und dennoch laufe ich diesmal, ausnahmsweise, freiwillig dort hin.

Ist es falsch zu denken, dass ich mich freue dort hinzugehen? Im Anbetracht der Tatsache, dass dort die Trauerfeier für Madison stattfindet?

Ich halte es für unpassend und unangebracht zu Lächeln, während ich die Tür zum Saal öffne, um diesen zu betreten. Ich setze also einen neutralen Gesichtsausdruck auf. Zumindest versuche ich das. Ich kann mir vorstellen, dass es mehr gezwungen traurig aussieht, als das es neutral wirkte.

Die schwere Glastür fällt hinter mir ins Schloss. Das laute Geräusch zerreißt die andächtige und gedrückte Stimmung. Soweit ich das gemerkt habe, in meiner Zeit hier, ist Madison ein beliebtes Mädchen gewesen. Sie hat hier viele Freunde gefunden. Viele Freundinnen, die jetzt mehr als eine Träne vergießen.

Ich schlucke ein weiteres Mal. Etwas unschlüssig stehe ich im Saal herum. So ohne Tische und Tabletts wirkt er ganz anders. Nicht wie ein Gefängnis, in dem man dazu genötigt wird fett zu werden.

Sie haben die Stühle in einem Kreis, wie in einer Sprechrunde, gestellt. Es ist ein großer Kreis mit vielen Stühlen. Außerdem haben sie das Licht gedämmt, in dem sie Jalousien heruntergefahren haben. Nur leicht und spärlich dringt etwas Tageslicht durch die Rillen der Jalousien. Vereinzelt stehen brennende Kerzen auf den nur an die Wände geschobenen Tischen.

Langsam nähere ich mich dem Stuhlkreis, in dem schon einige Patienten Platz genommen haben. Nur noch ein paar Stühle sind frei. Ich kann sie an zwei Händen abzählen.

Erst jetzt bemerke ich das Foto in der Mitte des Kreises auf einem Tuch. Daneben ein kleines Teelicht. Es ist ganz offensichtlich ein Foto von Madison. Jedoch scheint das Mädchen auf dem Foto ein ganz anderes zu sein, als das, welches wir hier in der Station hatten kennenlernen dürfen. Also die Anderen. Ich habe nie etwas mit ihr zu tun gehabt. Nicht wirklich.

Das Mädchen auf dem Foto hat kein eingefallenes Gesicht und keine dunklen Ringe unter den Augen. Auch ihre Augen selber sind nicht glasig. Ihr braunes Haar ist voluminös und fällt wellig über ihre Schultern. Das Mädchen strahlt mit einem solch breiten Lächeln in die Kamera, dass man sogar ihre Zähne sehen kann. Sie sind schön gerade und auch nicht sonderlich gelblich verfärbt. Alles in allem ist es ein wunderschönes, fröhliches Mädchen, das gerne lächelte. Zumindest wirkt es auf dem Foto so. Ihr Bruder muss es ausgewählt haben.

Ganz anders als Madison. Madison, so wie ich sie beobachtet habe, denn kennengelernt habe ich sie ja nicht, hat nicht gelächelt. Nie.

Wer lächelt denn auch beim fett werden?!

Schon richtig. Dennoch, auf den Fluren hat sie auch niemals gelächelt und als ich sie einmal draußen gesehen habe, so saß sie lediglich mit einem müden Gesichtsausdruck auf einer Bank. Im heißesten Sommer dick in eine Decke eingewickelt. Madison ist immer müde gewesen. Jede noch so kleine Bewegung schien ihr zu anstrengend.

Kurz schüttle ich meinen Kopf und fahre mir durch die Haare. Ich muss aufhören darüber nachzudenken. Schließlich kenne ich das Mädchen nicht einmal richtig, auch wenn ich mich früher ab und zu dabei erwischt habe, wie ich sie fast angesprochen habe. Aber nur fast.

Ich lasse mich auf einen freien Stuhl sinken und ziehe reflexartig meine Knie an meine Brust.

Was machst du hier eigentlich? Du kennst vielleicht ihren Bruder. Aber das war es auch schon. Du weißt doch nicht mal wie der heißt!

Und ganz plötzlich fühle ich mich unwohl. Die Stimme in meinem Unterbewusstsein, die mir sonst nur die gemeinen Wahrheiten zuflüsterte, hat recht. Ich kenne hier niemanden richtig. Ich habe mich immer davor gehütet auf Station richtig Freundschaften zu schließen. Ich habe meine Freunde schließlich da draußen. Das hier sind nur Bekanntschaften, denn ohne Freunde und Begleiter, oder wie ich sie nenne, Bekanntschaften, hat man es schwer hier wieder heil rauszukommen.

„Danke, dass du da bist".

Ich zucke leicht zusammen, als sich eine Hand auf meine linke Schulter legt. Der Platz neben mir, der bis vor wenigen Minuten – oder waren es Sekunden? – noch frei gewesen ist, ist nun besetzt. Der junge Mann mit der Wollmütze, Madisons Bruder, hat sich neben mich auf den Stuhl gesetzt und sieht mich von der Seite aus an. Ich bringe kein Wort hervor und schlucke nur.

Mit einem Mal ist es nicht mehr schwer traurig oder neutral zu schauen, denn der Blick des Jungen neben mir spricht Bände. Bände von Trauer, Wut und Zerrissenheit. So lange und intensive Bände, das ich glaube, den Schmerz selbst zu fühlen.

Und, ohne großartig vorher darüber nachzudenken, strecke ich meine schönen schlanken Arme nach dem jungen Mann aus und umarme ihn.

Dass diese Umarmung einem viel tieferliegenden Bedürfnis zugrunde lag, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

In 2 Monaten bist du tot!Where stories live. Discover now