Kapitel 1

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Hinweis: Diese Story wird täglich geupdated (oder zumindest versuche ich das) und dementsprechend ohne Überarbeitung veröffentlicht. Das mache ich, um mich dazu zu zwingen, mehr zu schreiben und nicht alles zehnmal zu überarbeiten, bevor ich weiterschreibe (weil das dazu führt, dass nie was fertig wird und ich insgesamt weniger schreibe). Dementsprechend kann es zu Rechtschreibfehlern usw. kommen, das bitte ich zu entschuldigen.

Viel Spaß beim Lesen!

„Die Jahrhundertflut des Jahres 2103."
Ich lächelte abfällig. Warum nur hatten Menschen stets diesen unwiderstehlichen Drang, einzelne, eigentlich unbedeutende Ereignisse viel zu großen Zeitspannen zuzuordnen? Der Hit des Jahres, das Sportereignis der Dekade, der Zeitgeist dieser Generation, die Chance eines Lebens, die Erfindung des Jahrhunderts. Oder eben die Flut eines Jahrhunderts. Dieses Jahrhunderts. Machten solche Ereignisse und die Veränderungen, die sie mit sich brachten, weniger Angst, wenn man sich einredete, dass sie sich nicht so schnell wiederholen würden? Dass man danach genug Aufregung gehabt hätte; und dass man Ruhe bekäme für den Rest seines Lebens, oder zumindest für ein paar Jahre? Menschen waren so irrational. Wer oder was sollte sich denn für so etwas interessieren? Ein Gott? Das Schicksal? Die... Fügung?
Ich lachte kurz auf, wandte mich von dem Wandbildschirm ab, und schüttelte den Kopf. Es gab keine Fügung. Es gab nur die Naturgesetze, und es gab Menschen, die töricht genug waren, zu glauben, sie könnten ihnen entkommen. Natürlich würde sich diese Flut wiederholen. Nur würde es dann keine Jahrhundertflut mehr sein, weil der Ausreißer, den die erste Flut in den Aufnahmen des Pegelstands der Elbe erzeugt hatte, die Varianz so stark erhöht haben würde, dass eine gleich starke Flut nur noch eine Jahrzehntflut sein würde. Und dann irgendwann ein jährliches Ereignis, und schließlich der Normalzustand.
~*~
Schwer atmend erreichte Jake den höchsten Punkt des Hügels. Er setzte seine Einkäufe ab und schaute auf das Haus, in dem er mit seiner Schwester und Dutzenden anderen Hausbesetzern wohnte. Es war lange vor seiner Geburt mal ein Prestigeprojekt gewesen, ein graziles Gebäude direkt am Wasser, wie die Häuser in Amsterdam, nur eben in modern. Eine Demonstration menschlicher Ingenieurskunst, mit viel Holz und sonstwieviel „smartem" Elektroschnickschnack. Entsprechend waren die Mieten gewesen. Als eine Untersuchung ergab, dass sich das Gebäude zwar um drei Grad geneigt hatte, aber keine Einsturzgefahr bestand, stolzierten die ersten Superreichen empört heraus und ließen sich direkt zu ihren Anwälten fahren, um zu prüfen, ob sie nicht irgendwie auf Schmerzensgeld klagen könnten, weil sie ja jahrelang in akuter Lebensgefahr gelebt hatten. Spätestens, als das Erdgeschoss immer regelmäßiger überschwemmt wurde, wollte dort niemand mehr freiwillig wohnen. Inzwischen erreichte das Wasser bei jeder Flut den zweiten Stock.
Irgendwann war ein Baum an das Gebäude gestürzt. Das stetige Schieben und Ziehen der Gezeiten hatte dafür gesorgt, dass sich darunter ein immer größer werdender Berg aus Müll und später auch aus Trümmern ansammelte. Es dauerte nicht lang, bis die ersten Jugendlichen den Baum entlangkletterten, die Fenster im dritten Stock einschlugen und das Haus besetzten. Es gab weder Strom noch fließendes Wasser, und man musste die Treppen zum 13. Stock nutzen, wenn man auf die Dachterasse wollte, aber trotzdem konnte man sich dort wie ein König fühlen. Viele der Fenster waren noch intakt und das Gebäude war gut isoliert. Die Einrichtung war bei weitem nicht mehr so erstklassig, wie sie einmal gewesen war, aber verglichen mit dem Beton unter einer Brücke war sie trotzdem purer Luxus.
Das einzige Manko an Jakes Unterschlupf war, dass er jederzeit einstürzen konnte. Man konnte die Schieflage des Gebäudes längst mit bloßem Auge erkennen. Seit keine Superreichen mehr darin wohnten, hatte niemand mehr die Statik untersucht, und weder der dagegen gekippte Baum noch der gestiegene Meeresspiegel dürften zur Stabilität beigetragen haben. Das war auch der Grund, warum der Großteil seiner Bewohner möglichst weit unten lebten, wo sie im Notfall schnell fliehen konnten – wenn sie nicht im Schlaf überrascht worden.
Jake wohnte mit seiner Schwester im obersten Stockwerk. Wenn er danach gefragt wurde – was selten vorkam – antwortete er, dass er den Ausblick aus dem Panoramafenster mochte. In Wahrheit hatte es eher damit zu tun, dass er seine Ruhe brauchte. Er hängte sich den großen Beutel mit Einkäufen über die Schulter und bestieg vorsichtig den Baumstamm, der zum Haus führte. Dort angekommen, machte er sich so klein wie möglich und lief, so schnell er konnte, ohne allzu viel Lärm zu erzeugen, in Richtung Treppenhaus. Er spürte die stillen Blicke der Anderen in seinem Rücken. Jake wusste selbst nicht, was da zwischen ihm und seinen Mitbewohnern war. Er hatte nie irgendeine Form von Anfeindung zu hören bekommen, eher hatten sie ihn anfangs stets jovial begrüßt, gerufen, er solle sich doch auf ein Bier oder einen Joint zu ihnen setzen. Einige Male hatte er die Einladung auch befolgt, mit der striktem Ansage, dass er weder trinken noch rauchen würde. Diese wurde aber von seinen quasi-Nachbarn mit einem Lachen ignoriert. Im Laufe des Gesprächs merkte er, wie die beiden Typen, die nebem ihm auf der Bank saßen, ihm Stück für Stück näher nückten , bis er schließlich Panik bekam und floh. Vielleicht war es nur Paranoia, aber seitdem waren diese Leute Jake nicht mehr geheuer.
Im Treppenhaus angekommen, entspannte Jake sich etwas und begann langsam den Aufstieg in den dreizehnten Stock. Es nervte ihn, dass er immer außer Atem war, wenn er oben ankam, aber er hatte mit seiner Zeit besseres zu tun, als im Treppenhaus auf- und abzurennen, um zu trainieren. Die anderen hielten ihn wahrscheinlich auch so schon für merkwürdig genug.
Endlich war er oben. Die Wohnung war viel zu groß für zwei Personen – zumindest zwei Personen ohne Putzkraft und laufendes Wasser – und dementsprechend verdreckt und vermüllt. Nur von der Tür zur Couch und von dort zum Bett gab es einen Streifen auf dem Boden, der sauber war. Seine Schwester hockte mit angewinkelten Beinen auf der Couch, mit angespannter Miene in einen Handheld vertieft.
„Was machst du so?", rief Jake in den Raum hinein.
Daisy schaute auf und hielt den Bildschirm des Handhelds in seine Richtung. „Mathe", antwortete sie lapidar.
„Echt? Zeig mal!"
Er ging zu ihr hinüber und wuschelte ihr durch die Haare. Sie kicherte kindlich. Jake schaute auf den Bildschirm und sagte: „Du warst ja wirklich fleißig. Bin stolz auf dich."
„Also darf ich nachher Schokolade essen?", grinste sie ihn ungeniert an. „Jaaaa, jaaa, darfst du", erwiderte er und ging in einen Nebenraum, um seine Einkäufe zu verstauen.
Es waren hauptsächlich vorgeschnittenes Brot, einige Brotaufschnitte, Wasserfilter, einige Getränke und ein wenig Obst. Eben alles, was nicht gleich schlecht wurde, wenn man keinen Kühlschrank hatte, und was sich ohne funktionierende Küche zubereiten ließ.
Daraufhin stieg er die Treppe hinauf zur Dachterrasse und setzte sich auf einen der uralten, nur ab und am vom Regen abgespülten Plastikstühle, die dort standen. Er mochte es dort. Die Luft war anders. Irgendwie. Er konnte nicht wirklich beschreiben, warum, aber er mochte diesen Ort.
Jake schloss die Augen und entspannte seinen Körper. Er spürte einen Windhauch in seinem Gesicht. Von unten war ein stetiges, sanftes Wasserplätschern zu hören. Irgendwo zwitscherten ein paar Vögel. Er lächelte.
Manchmal hatte er das Gefühl, dass nur ein gewisser Galgenhumor ihn noch am Leben hielt. Und seine Schwester. Seine Eltern waren gestorben, als er 14 war, vor drei Jahren. Zur falschen Zeit am falschen Ort, umgekommen bei einer der unzähligen kleinen Sturmfluten, die die Stadt gerade unregelmäßig genug erreichten, um nicht vorhersagbar zu sein. Die letzten 3 Jahre hatte er allein mit seiner Schwester gelebt. Er war unglaublich froh, sie zu haben, und hatte unendliche Angst, sie zu verlieren.
Jake atmete durch die Nase aus und drehte den Kopf mit geschlossenen Augen zur Seite. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Aber es ließ sich nicht ignorieren: Das einzige Ziel seines Lebens war es, sich um seine Schwester zu kümmern. Es gab sonst niemanden in seinem Leben. Er lebte Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr ohne Richtung vor sich hin. Was sollte er schon machen? Es war fast unmöglich, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, geschweige denn einen Job. Und selbst wenn, hätte er nicht gewusst, in welchem Feld er arbeiten wollen würde. Er hatte keine Hobbies, keine Talente, keine Freunde. Letzteres war kein Wunder, weil er ja kaum das Haus verließ, aber die Stadt war ein gefährlicher Ort, besonders für Jungen wie ihn. Kurz nachdem alle, die es sich finanziell leisten konnten, aus Hamburg geflohen waren, war demokratisch beschlossen worden, die wenigen Einnahmen, die die Stadt noch hatte, solidarisch in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens an alle ab 14 zu verteilen. Es war kaum genug, um sich zu ernähren, geschweige denn, Miete zu zahlen. Trotzdem mussten die Ausgaben für den öffentlichen Sektor immer weiter gekürzt werden. Es gab kaum noch Polizei. Fast alle Schulen mussten geschlossen werden. Wer konnte, erzog seine Kinder zuhause, oft mit elektronischen Lernprogrammen. Krankenversicherungen waren Luxus geworden.
Jake und Daisy hatten nur überlebt, weil sie in verlassenen Häusern geschlafen hatten. Und weil Jake es geschafft hatte, seine Sachbearbeiterin zu überzeugen, ihm für sie beide den vollen Satz Grundeinkommen zu bewilligen.
Er erinnerte sich noch gut an das ewige Warten im stickigen Vorzimmer des Bürgeramtes. Er war mit Abstand der Jüngste dort gewesen. Als er endlich aufgerufen wurde, zuckte er nervös zusammen. Ein Schild auf ihrem Tisch wies seine Sachbearbeiterin als „Frau Kramer" aus. Sie war relativ alt, mindestens Ende vierzig. Sie grüßte Jake freundlich und forderte ihn auf, sich zu setzen. Als er nach dem dritten Versuch, etwas zu sagen, immer noch kein Wort herausgebracht hatte, schob er ihr einfach stumm die Mappe mit seinem Antrag auf den Schreibtisch. Sie schlug die Mappe auf und las. Lange. Er schaute zu, wie ihre Augen von Zeile zu Zeile hüpften.
Dann sagte sie: „Tut mir leid, aber das geht nicht. Deine Schwester ist erst zehn. Damit hat sie Anspruch auf 40% dessen, was sie ab 14 bekommen würde. Das mit deinen Eltern ist tragisch, aber ich kann deswegen keine Ausnahme machen."
Jake bewegte aufgeregt seine Arme vor seinem Oberkörper, während er nach Worten suchte. „D-Das können sie nicht machen! S-sie kommt bald in die Pubertät! B-bitte... Ich will nicht stehlen müssen, um zu überleben."
Die Frau schien mit sich zu kämpfen. „Unsere Ressourcen sind leider stark begrenzt, wir können nicht jedem so viel geben, wie er bräuchte..." Da bemerkte Jake, dass die Frau ein Regenbogenarmband trug. Er überlegte einen Moment, zögerte, dann griff er seitlich in den Kragen seines T-Shirts und zog die Halsöffnung bis zur Schulter. Darunter wurde ein breiter, eng anliegender Schulterträger sichtbar. „Bitte!", flehte er, Tränen in den Augen.
Frau Kramers Augen weiteten sich. „Oh...", sagte sie. „Na gut..." Sie zögerte noch einen Moment, dann unterschrieb sie den Antrag und stempelte ihn ab. „Ich... ich denke, in dem Fall geht das in Ordnung."
Jake schnappte sich die Mappe, drückte sie gegen seinen Oberkörper und rannte ohne ein weiteres Wort hinaus. Vorbei an den verwundert schauenden Menschen im Wartezimmer, vorbei an den Passanten auf der Straße. Er hatte sich selten so erniedrigt, so ausgeliefert gefühlt.
Eine zarte Hand legte sich auf seine Schulter. Jake merkte, dass er geweint hatte.
„Hey. Alles okay bei dir?", fragte Daisy.
Jake hob den Kopf und wischte sich mit dem Arm unter der Nase entlang. „Ja. Ist schon okay", sagte er, seine Stimme vom Weinen höher, als ihm lieb war.
„Willst du drüber reden?"
„Nein. Geht schon."
Sie umarmte ihn etwas ungeschickt und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich bin für dich ja, okay?"
Jake nickte. „Aber... verdammt, eigentlich sollte ich für dich da sein. Ich sollte dich beschützen. Ich bin dein großer Bruder..."
„Shhh, halt den Mund, du Doofi", widersprach Daisy und boxte Jake spielerisch in die Schulter. „Du machst einen super Job. Du kümmerst dich wirklich gut um uns beide."
Jake setzte zu einer Erwiderung an, doch Daisy hielt ihm den Mund zu und schüttelte den Kopf. „Mhm-mhm, keine Widerrede. Sorg nicht dafür, dass ich dich nochmal boxen muss."
Jakes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen und er musste schmunzeln. „Komm her, du", meinte er und zog Daisy fest an sich. Etwas leiser flüsterte er: „Danke." Daisy kicherte, bevor sie sich aus seinem Griff herauswand. „Also eeeeeigentlich bin ich bloß hierhergekommen, damit du mir sagst, wo du die Schokolade versteckt hast", gab sie mit einem breiten Grinsen zu. Jake wuschelte ihr lachend durch die Haare. „War ja klar..."
Am nächsten Morgen wurde Jake durch ein lautes Klopfen an der Tür geweckt. Er war sofort hellwach, sein Herz schlug panisch. Wer konnte das sein? Polizei? Sollten sie geräumt werden? Unwahrscheinlich. Die hatten wichtigeres zu tun. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein Polizist seine Prioritäten... fragwürdig setzte. Er strampelte sich aus dem Schlafanzug und griff sich das nächstbeste T-Shirt. Wieder klopfte es. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt breit.
Dahinter stand einer der Typen, die im untersten nicht überfluteten Stockwerk wohnten. Er fühlte sich sichtbar unwohl in seiner Haut, tänzelte unsicher von einem Bein aufs andere.
„Hey, ähm... Also ich weiß, dass die Dinge zwischen uns nicht ideal gelaufen sind, und... äh... also..."
Jake beäugte ihn skeptisch. Sollte das jetzt eine Entschuldigung für die Belästigung werden? Die käme reichlich spät. „Spuck's aus!"
Der Besucher zuckte sichtlich zusammen. „Also, eigentlich wollten wir euch nur wissen lassen, dass wir uns vom Acker machen. Einer von uns hat 'ne Karre aufgetrieben, und... ja. Die Unwetter werden nicht besser, und wer weiß, wie lange das Haus es noch macht. Ist besser, jetzt abzuhauen, so lange es noch warm ist und man notfalls draußen schlafen kann. Würden euch auch 'nen Platz anbieten, aber das Auto ist eh schon total voll. Naja, auf jeden Fall werden wir ne ganze Menge Zeug zurücklassen müssen. Könnt euch gern daran bedienen, sobald wir heut Nachmittag weg sind. Vielleicht wollt ihr euch ja auch bald auf den Weg machen. Würds euch raten, bevor euch die Bude noch zusammenkracht, während ihr schlaft..."
Das war unerwartet. „Ähhhmmm... danke."
Der Besucher schien recht froh, entlassen zu sein, drehte sich um und ging schnellen Schrittes die Treppe herab.
Jake stand noch einige Sekunden an der einen Spalt breit geöffneten Tür. „Well... that was weird", murmelte er, bevor er sie schloss und zurück zum Schlafzimmer ging.

Hamburg 2103Where stories live. Discover now