Kapitel 4

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Jake erwachte, als er von etwas an der Schulter berührt wurde. Er wollte die Augen öffnen, doch seine Lider fühlten sich trocken und klebrig an. Wie lange hatte er geschlafen?
Endlich schaffte er es, seine Augen zu öffnen. Es dauerte lange, bis sie endlich fokussierten. Vor seinem Gesicht war ein anderes, das ihn geduldig beobachtete. Er konnte schlecht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war. Das Licht draußen war orange und die Schatten waren lang, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, in welche Richtung der Schattenwurf gegangen war, als sie ankamen. War es morgens oder abends? Hatten sie einen ganzen Nachmittag hier gelegen oder auch noch eine ganze Nacht?
Erst nach und nach begann er, seinen Körper wieder zu spüren. Er lag immer noch auf dem Rücken, seinen Kopf zur Seite gedreht. Mit Ekel wurde ihm bewusst, dass er auf den Boden gesabbert hatte. Er wollte seinen Arm heben, um seinen Mund sauber zu wischen, doch es gelang ihm nicht, die Bewegung zu koordinieren, so dass seine rechte Hand nur einen Bogen durch die Luft beschrieb und dann schwach an die Wange seines Gegenübers patschte.
Dieser nahm das offenbar als Akt der Selbstverteidigung auf, denn er wich zurück. „Hey, hey, shhh. Ich will dir nichts Böses. Ich will dir nur helfen." Er wartete eine Weile. „Mein Name ist Marlon. Ist es okay, wenn ich euch trage?"
Jakes Mund klappte auf, doch seine Kehle war so trocken, dass er nur röcheln konnte. Er entschied sich, stattdessen zu nicken.
Marlon schob behutsam einen Arm unter Jakes Rücken, dann einen zweiten unter seinen Oberschenkel. Er hob ihn hoch und ging zu Daisy rüber, wo er das gleiche tat.
Jake spürte, wie er hochgehoben wurde, und er spürte Daisys Arm gegen seinen eigenen drücken. Irgendwo, weit hinten in seinem Kopf, wusste er, dass kein Mensch stark genug... war? sein konnte? sein sollte?, um zwei Teenager auf seinen Armen tragen zu können, und seien sie auch noch so ausgehungert. Aber bevor er diesen Gedanken vertiefen konnte, übermannte ihn die Müdigkeit wieder.
Als er das nächste Mal aufwachte, lag er in einem alten Krankenbett. Der Raum schien zu einer Ruine zu gehören, die mit Holz und Lehm notdürftig wiederaufgebaut worden war. Die unteren zwei Drittel der Wand, die er sehen konnte, waren aus Beton, darüber setzten Holzpflöcke an, die die Decke hielten. Die Lücken zwischen diesen waren mit Lehm aufgefüllt. Der Raum war klein, gerade groß genug für zwei Krankenbetten und einen Schrank an der rechten Wand.
Am Fußende seines Bettes stand ein Mädchen mit hüftlangen, knallpinken Haaren in einem Krankenschwesterkittel. Sie konnte kaum älter sein als er, was ihn verwunderte. Sie bemerkte, dass er wach war, holte eine Tasse von einer Art Nachtschrank, und hielt sie ihm hin. „Bist du stark genug, um selbst zu trinken?"
Jake versuchte, einen Arm zu heben und schüttelte dann den Kopf.
„Okay, kein Problem." Sie führte die Tasse an seine Lippen und kippte sie vorsichtig. Jake trank.
„Das wird dich in ein paar Stunden wieder auf die Beine bringen. Deine, ähm, Begleitung...?"
Jake half ihr aus: „Meine Schwester."
„...Deine Schwester hat auch schon etwas getrunken. Es ist wirklich Glück, dass Marlon euch noch rechtzeitig gefunden hat."
Ihre Sprechweise, ihre Bewegungen - alles an ihr - wirkte irgendwie... aufgekratzt auf Jake. Durchgedreht. Zu schnell, zu energetisch. Das alles war ihm nicht ganz geheuer. Er hatte das vage Gefühl, dass er und seine Schwester in Gefahr waren. Die Tatsache, dass seine Schwester auch schon von dem Gesöff, was sie ihm eingeflößt hatte, getrunken hatte, gefiel ihm nicht. Wer wusste, was da drin war und was sie mit ihnen vorhatte?
Trotz dieser Zweifel fühlte er seine Kräfte langsam zurückkehren. Prüfend versuchte er, einen Arm zu heben. Es gelang ihm. Die Krankenschwester grinste breit und hielt ihm ihre Hand hin. „Mein Name ist übrigens Jinx."
Zögernd schüttelte Jake ihre Hand. Kaum, dass er sie ergriffen hatte, wurde sie schon wieder weggezogen. „Ich habe aber noch andere Dinge zu tun. Ruht euch noch etwas aus, ja? Und macht keine Dummheiten."
Damit verschwand sie aus der Tür. Jake blickte sich noch etwas um. Die Einrichtung sah zugleich professionell und gewöhnlich aus, der Schrank und die Betten hätten aus jedem beliebigen verlassenen Krankenhaus in Umkreis stammen können. Wer hatte das Zeug hierhergebracht? Zumindest hatten die Betten keine Riemen, mit denen man Patienten fixieren konnte. Jake entspannte sich etwas. Vielleicht hatte er auch einfach nur zu viele Bücher über Wissenschaftler*innen, die im Geheimen an Menschen herumexperimentierten, gelesen.
Gegenüber der Tür war ein kleines Fenster, durch das gräuliches Licht hereinfiel. Jake versuchte, sich aufzusetzen, um einen besseren Blick zu bekommen, war aber noch zu schwach dafür. Er konnte erkennen, dass sie im Erdgeschoss waren, er sah einen Baumstamm und ein Stück verdorrte, gelbliche Wiese. Es schien bewölkt zu sein, was die Lichtfarbe erklärte – und es unmöglich machte, zu schätzen, welche Tageszeit war.
Plötzlich hörte er ein Rascheln auf seiner linken Seite.
„Hey, psst. Bist du wach?" fragte er flüsternd – nicht, dass er mit seinem trockenen Hals eine andere Möglichkeit gehabt hätte.
Daisy murmelte verschlafen etwas Unverständliches, dann öffnete sie die Augen und schaute zu ihm rüber.
„Alles okay bei dir?", fragte Jake.
Daisy setzte sich auf. „Ja. Also, den Umständen entsprechend." Sie hustete zweimal. „Aber dieses Zeug wirkt Wunder. Sie nahm eine Tasse von ihrem Nachtschrank und setzte zum Trinken an.
„Nicht!", flüsterte Jake.
Daisy hielt inne und sah zu ihm hinüber. „Was? Warum nicht?"
„Wir wissen nicht, wer diese Leute sind. Die könnten uns Gott-weiß-was verabreichen!"
„Ja. Aber was schlägst du denn als Alternative vor? Wenn wir versuchen, wegzulaufen, brechen wir wieder zusammen, bevor wir überhaupt aus dem Haus raus sind. Zumindest, bis wir wieder bei Kräften sind, sollten wir brave Patienten spielen." Sie trank demonstrativ einen großen Schluck aus der Tasse.
Jake fauchte frustriert. Er hätte nicht sagen können, ob er wütend auf ihre Situation war, oder darauf, dass Daisy ihm nicht gehorchte, oder ob er genervt davon war, dass sie schon wieder recht hatte. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.
„Na gut. Aber wir müssen bereit sein, jederzeit zu fliehen, ja? Wachsam bleiben."
Daisy kicherte. „Jaaaa, Papa."
Das brachte auch Jake zum Lachen. Das Sprechen hatte ihn allerdings mehr angestrengt, als er erwartet hatte. „Ich... glaube, ich schlaf nochmal eine Runde. Kannst du derweil aufpassen?"
„Ich kann's versuchen, aber keine Versprechungen. Ich bin auch längst noch nicht wieder bei Kräften."
„Okay. Versuch einfach dein Bestes."
Damit schloss Jake seine Augen wieder und war bald eingeschlafen.

Hamburg 2103Where stories live. Discover now