Kapitel 9

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Abends aß Jake das erste Mal mit allen anderen im Haupthaus. Kaum hatte er sich einen Teller mit Essen vom Buffet geholt und hingesetzt, schwärmten vor allem die Jüngeren Dorfbewohner zu ihm und begannen, ihn mit Fragen zu löchern wie eine aufgeregte Horde Grundschüler. Es war offensichtlich, dass sie nicht oft neue Menschen kennenlernten.

Er hob die Hände und war überrascht, dass alle sofort verstummten. „Okay, wie wäre es, wenn ihr euch erstmal der Reihe nach vorstellt? Das ist definitiv besser, als wenn ihr alle durcheinanderredet."

Rundum Nicken. Dann ein Moment peinlicher Stille, bevor sich ein recht klein gewachsener, pummeliger Jugendlicher mit Brille und kurzen, kräftig violett gefärbten Haaren, traute, den Anfang zu machen: „Also. Mein Name ist Finn, ich bin 18, nichtbinär, nutze im auch im Deutschen „they" als Pronomen. Ich liebe es, zu singen und ich lese sehr gern Bücher. Außerdem bin ich immer für eine Umarmung zu haben."

Im Uhrzeigersinn neben ihm saß ein schüchterner Junge mit etwas längeren Haaren, die in Abschnitten rund um seinen Kopf in pastelrosa, pastelblau und weiß gefärbt waren. „Niklas. Er. 16. Mag Dinge reparieren", murmelte er. Als niemand sonst etwas sagte, fügte er hinzu: „Weiter."

Neben ihm saß die Frau, die ihn im Krankenzimmer betreut hatte. „Mich kennst du ja schon. Jinx, sie, 20. Ich kümmere mich um alles, was mit Medikamenten zusammenhängt", ratterte sie herunter und warf zum Abschluss ihren Kopf zur Seite und grinste, so dass ihre langen Haare wild herumwirbelten.

Es stellten sich noch eine Handvoll weiterer Jugendlicher vor, deren Namen und Gesichter sich Jake aber nicht merken konnte. Es waren einfach zu viele auf einmal.

Schließlich war der Mensch, der sie hierhergebracht hatte, an der Reihe. Er hatte tiefblaue Haare. „Du bist Marlon, richtig?", kam Jake ihm zuvor. Der Angesprochene lächelte. „Genau. Mein Pronomen ist auch „er", ich bin 20 und ich patrouilliere regelmäßig durch die Stadt."

„Aber wie in aller Welt hast du es geschafft, uns beide auf einmal zu tragen? Hast du Superkräfte oder so?"

Marlon lachte. „Fast. Meine Arme und Beine sind verstärkte Prothesen. Damit kann ich auch locker mal 150 Kilo heben."

„Wow." Jake klappte die Kinnlade herunter.

Als nächstes meldete sich eine jüngere Person, die sich neben Daisy gesetzt hatte. „Ich bin Mica. Sie. Ich mag Mathe und ich spiele Klavier."

Sie war sichtlich nervös, weswegen Jake ihr ein beruhigendes Lächeln schenkte.

Jake schaute sich im Raum um. „Und wer ist das da drüben?", fragte er und deutete dabei auf eine Person, die mit aufgesetzter Kapuze und von allen anderen abgewandt allein an einem Tisch aß.

„Das ist Jack", erklärte Finn. „Er... naja, er ist gerade der Meinung, dass sein Leben hier sinnlos sei. Deswegen ist er ständig wütend. Gib ihm am besten etwas Raum. Wenn überhaupt, redet er nur mit den Erwachsenen. Es kann sein, dass er unser Dorf bald verlässt."

„Ah", erwiderte Jake, unsicher, wie er diese Information einordnen sollte. Wusste Jack vielleicht von irgendwelchen zwielichtigen Vorgängen hier im Dorf? Jake rief sich selbst in Erinnerung, dass er Daisy versprochen hatte, weniger misstrauisch zu sein, und schüttelte den Gedanken ab. Wahrscheinlich hatte der Junge im Hoodie wirklich nur eine Sinnkrise.

„Habt ihr Lust, heute Abend mit uns Tabu zu spielen?", fragte Finn und unterbrach Jakes Gedankengang.

„Tabu?", fragte Daisy und legte den Kopf schief. „Was ist das?"

„Das ist ein Teamspiel, in dem man versucht, seinem Team Begriffe zu erklären, aber dabei fünf bestimmte Worte nicht benutzen darf. Es ist super lustig!"

Jake und Daisy schauten sich an und zuckten mit den Schultern, dann nickten sie. „Klingt gut", sagte Jake. „Warum nicht?"

Finn sprang auf und ging zu einem Schrank, in dem mehrere Brettspiele waren. They holte eine Pappkiste, die eher Jahrzehnte als Jahre alt zu sein schien hervor und brachte sie zum Tisch. Dabei griff they zwischen Jakes und Daisys Kopf hindurch und fragte: „Darf ich vielleicht auf eurer Seite sitzen? Ich wäre gern in eurem Team."

„Ist das okay für dich?", fragte Jake seine Schwester. Diese nickte. Sie rutschten ein Stück auseinander, Finn stieg über die Bank und setzte sich.

„Geht es für alle in Ordnung, wenn ich mit Jake und Daisy in einem Team bin und Jinx, Niklas und Marlon im anderen?"

Alle nickten. „Okay", sagte Finn, während they die Box öffnete und den Spielplan auseinanderfaltete. „Dann müssen wir uns nur noch für eine dieser beiden überhaupt nicht binärgeschlechtlich vorbelasteten Spielfigurenfarben aussuchen."

They hielt eine rosane und eine hellblaue Figur hoch und erntete einiges Schmunzeln.

Das Spiel war knapp und spannend, am Ende konnte Finns Team es aber für sich entscheiden. Finn jubelte und gab Jake und Daisy high fives. Dann fragte they Jake: „Magst du eine Umarmung?"

Jake zuckte mit den Schultern, dann nickte er. Finn machte „awwww" und drückte ihn fest an sich. They war warm und hatte weiche Haut. Zögerlich erwiderte Jake die Umarmung und streichelte Finn sanft über den Rücken.

Schließlich war es Zeit, schlafen zu gehen. Daisy führte Jake ihn den zweiten Stock des Haupthauses und zeigte ihnen ihr gemeinsames Zimmer. Es war eins von zweien am Ende des Ganges und hatte ein großes Fenster, durch das man den Platz vor dem Haus überblicken konnte.

„Ich schlafe da oben!", rief Daisy glücklich, streckte sich und zog an einem Stab, der eine Leiter ausklappte. Der Raum oben war sehr niedrig und hatte kein eigenes Fenster, war aber dafür komplett mit Kissen und einer Matratze ausgelegt.

„Sieht gemütlich aus", kommentierte Jake. „Schläfst du gut dort oben?"

„Jaaaa!", rief Daisy voller Begeisterung.

Jake lächelte und scheuchte seine Schwester nach oben. „Dann tu das mal, ich bin nämlich auch müde!" Er legte sich hin und war schnell eingeschlafen. Vielleicht war es doch nicht so schlimm hier.

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⏰ Last updated: Sep 19, 2018 ⏰

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