Kapitel 2

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Am nächsten Morgen wurde er von einem Kissen geweckt, das ihm an die Wange gestupst wurde. Er schmunzelte. „Aufgekratzt wie immer, hm?" Während er sich aufsetzte, streckte und ausgiebig gähnte, sprang Daisy bereits wild auf ihrer Matratze herum. Jake lachte. „Deine Energie möchte ich haben."
Er stand auf, ging in die Küche und machte ihnen beiden Frühstück. Ohne Teller natürlich, sie hätten ja eh keine Möglichkeit gehabt, diese abzuwaschen. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch Strom hatten. Gelobt seien hausinterne Stromnetze, die von Solarzellen auf dem Dach gespeist wurden!
Sie aßen auf dem Boden, einen Tisch gab es nicht. Nach einer Weile fragte Daisy: „Ist irgendwas passiert? Du siehst nachdenklich aus."
„Hmmm... Heute Nacht kam einer von unseren Mitbewohnern und meinte, dass sie Leine ziehen. Ich überlege, ob wir das auch tun sollten."
Daisy nickte. „Hm... Warum genau?"
„Naja, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Dass wir zwei füreinander da sind, ist super, aber... ich weiß nicht. Ich hätte schon gern noch andere Menschen in meinem Leben. Wenn du verstehst, was ich meine."
Daisy nickte wieder. „Ja. Ist schon etwas einsam."
„Andererseits: Wer sagt mir denn, dass es uns anderswo besser gehen wird? Wenn wir die Stadt verlassen, müssen wir wahrscheinlich zu Fuß gehen, wohin auch immer wir gehen wollen. Trampen würde uns beide in Gefahr bringen. Es gibt einfach zu viele Arschlöcher da draußen." Er vergrub sein Gesicht in den Händen.
Daisy strich ihm zärtlich über den Kopf. „Hey. Der Sommer ist noch lang genug. Wir können das vorbereiten und planen. Und uns informieren, bevor wir entscheiden, in welche Richtung wir gehen. Und es macht sowieso Sinn, zum nächsten 1. zu warten, damit wir etwas Geld haben, wenn wir uns auf die Reise machen."
Jake nicke. „Ja, lass uns das tun."
Über die nächsten zwei Wochen hörten sie sich bei allen möglichen Tourismusbüros und Obdachlosenvereinigungen um. Viel nützliche Informationen bekamen sie nicht. Wo es Geld gab, gab es Statistik, gab es vernetzte Informationen. Für jede größere Stadt ließ sich herausfinden, wie teuer Hotels waren, wie belegt sie waren, welche Sehenswürdigkeiten es gab... aber verlässliche Informationen darüber, wie Obdachlose behandelt wurden, wie viele Verbrechen gegen sie begangen wurden, ob es freie Unterkünfte gab, das konnte niemand mit Sicherheit sagen. Nur vom Hörensagen, maximal aus subjektiver Perspektive. Wer wollte schon wissen, wie schlimm die Armut im Land genau war?
Schließlich entschieden sich die beiden, so weit wie möglich mit dem Zug aus Hamburg rauszufahren und dann die kaputten Bahnschienen Richtung Berlin entlangzulaufen. So konnten sie die zumindest die Richtung nicht verlieren, selbst wenn alle elektronischen Geräte ausfielen. Der außerstädtische Zugverkehr war schon vor Jahrzehnten eingestellt worden, zu oft waren die Gleise durch Stürme oder andere Naturereignisse unbenutzbar geworden. Irgendwann war auch der letzte Klimaschützer auf Geländewagen umgestiegen. Zudem gab es keine Instanz mehr, die sich um die Infrastruktur in ländlichen Gebieten hätte kümmern können. Nachdem die Nationalstaaten erst in der Europäischen Union aufgegangen und diese 25 Jahre später zerfallen war, gab es in Europa vor allem städtische Regierungen und eine Zahl sehr kleiner, autonomer Gruppen, die das Niemandsland zwischen den Städten bevölkerten und ihr Überleben entweder durch Überfälle auf Durchreisende oder durch Landwirtschaft absicherten. Jake hoffte, dass sie vor Ersteren relativ sicher waren – es würde hoffentlich niemand zwei Fußgänger, die nichts von Wert bei sich trugen, überfallen.
Sie hatten beide je einen Rucksack. Darin waren ein Wurfzelt, zwei Isomatten, zwei Schlafsäcke. Ein wenig Wechselkleidung. In Jakes Rucksack, der etwas größer war, hatte er noch einige zusammenklappbare Solarzellen, etwas Nährpulver und, was am wichtigsten war, ein kleiner Wasseraufbereiter. Wasser würde ein noch größeres Problem werden als Nahrung. Er würde in seinem Rucksack 3,5 Liter mitnehmen und Daisy in ihrem 1,5 Liter. Insgesamt also 5 Liter.
Zwischen Aumühle, der letzten Station des Hamburger Nahverkehrsnetzes, die noch bedient wurde, und Nauen, der ersten des Berliner Netzes, lagen exakt 225.956 Meter Schiene. Wenn der Weg frei war und sie gut vorankamen, war das vielleicht in 2 Wochen zu schaffen. Und selbst die knapp über 16 Kilometer pro Tag, von der diese Rechnung ausging, waren aufgrund des schweren Gepäcks schon eine ziemliche Zumutung für Daisy. Fest stand, dass sie die Reise nicht ohne irgendeinen glücklichen Zufall schaffen würden. Selbst wenn sie es schafften, immer wieder Wasser zu finden, das sauber genug für den Wasseraufbereiter war, würde ihnen das Nährpulver nach 5 Tagen ausgehen. Ein Kilogramm enthielt um die 4000kcal, also genug für sie beide für einen Tag. Jake hatte gerade so 5 Kilo auftreiben können, mehr hätte er aber auch nicht schleppen können. Nachdem ihnen die Nahrung ausging, konnten sie vielleicht noch zwei, drei Tage weiterlaufen. Aber auch das wäre nicht genug.
Trotzdem hatten sie sich dazu entschieden, die Reise anzutreten. Es war immer noch besser, sein Leben zu riskieren, während man versuchte, etwas zu verändern, als untätig darauf zu warten, dass man von der Einsamkeit, einer Krankheitswelle oder dem nächsten gewalttätigen Besoffenen dahingerafft wurde.

Hamburg 2103Where stories live. Discover now