Kapitel 3

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Die ersten zwei Tage verliefen relativ gut. Das Wetter war mild warm, der Himmel leicht bewölkt und die Strecke nur ab und zu von einem umgestürzten Baum unterbrochen, über den man leicht drübersteigen konnte. Ab und an kamen sie an Bahnhofsruinen vorbei, mal mit mehr, mal mit weniger eingestürzten Häusern in der Umgebung. Aber alle waren verlassen. Sie begegneten keiner Menschenseele.
Am ersten Tag schafften die Beiden 17 Kilometer, am zweiten sogar 24. Jake begann schon, sich zu fragen, ob sie die Strecke vielleicht doch in 7 Tagen schaffen könnten. Wenn sie jeden Tag ein bisschen mehr liefen und dann am siebten Tag vielleicht 40 schafften? Es war nicht unmöglich.
In der Nacht zum dritten Tag wurden die beiden davon geweckt, dass Regen auf die Zeltplane prasselte. Anfangs hoffte Jake noch, dass es nur ein kurzes Sommergewitter wäre, doch diese Hoffnung wurde schnell enttäuscht. Es regnete und regnete. Das Zelt war wasserdicht, doch ihnen ging wertvolle Zeit verloren. Daisy, die bis jetzt tapfer und ohne zu klagen hinter Jake hergestapft war, bekam zunehmend Angst. Jake ließ sie sich an ihn kuscheln und fuhr ihr beruhigend durch die Haare, aber letztendlich konnte er wenig an der Situation ändern. Immerhin konnten sie ihre Wasservorräte wieder auffüllen, und vielleicht war es gar nicht so schlecht, ihren Muskeln etwas Ruhe zu gönnen.
Endlich, am späten Nachmittag, lichtete sich der Regen und hörte schließlich ganz auf. Die beiden bauten ihr Zelt ab und packten ihre Sachen. Es kam ihnen sehr zu Gute, dass sie eine Bahnstrecke entlangliefen, denn auf den Betonstücken, auf denen die Schienen lagen, ließ es sich auch nach längerem Regen gut laufen, während der Waldboden neben den Schienen vollkommen durchweicht und matschig war. Sie liefen bis nach Sonnenuntergang, trotzdem schafften sie nur 14 Kilometer.
Die nächsten beiden Tage wurde es sehr heiß, die Sonne knallte vom Himmel. Glücklicherweise verliefen die Schienen oft am Waldrand, so dass sie zumindest im Schatten laufen konnten. Viel trinken mussten sie trotzdem. Jake entschied, dass sie von nun an in den Wasseraufbereiter urinieren würden. Das würde der zwar nicht lange mitmachen, aber wenn sie in den nächsten Tagen nichts fänden, von dem sie sicher waren, dass es essbar war – weder Jake noch Daisy hatten besonders viel Vertrauen in ihre Fähigkeiten im Pflanzen bestimmen, weswegen sie bis jetzt beim Nährpulver geblieben waren – war das sowieso egal. Außerdem hatten sie angefangen, benutzte Kleidung nicht wieder in ihre Rucksäcke zu stopfen, sondern einfach am Waldrand liegen zu lassen. Die Chance, dass sie sie nochmal nutzen konnten, schwanden sowieso von Stunde zu Stunde, und jedes Gramm, das ihre Rucksäcke leichter wurden, war eine Erleichterung.
An den ersten beiden Tagen hatten sie sich die Zeit noch mit Singen vertrieben, nun kam keinem der beiden mehr in den Sinn, ihre Kehlen auf diese Art zusätzlich auszutrocknen. Sie liefen nur noch stumm hintereinander her, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Alles, was zählte, war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die schmerzenden Gelenke zu ignorieren. Immer weiter. Stur bleiben, stark bleiben. Auf diese Weise liefen sie am vierten Tag 26 Kilometer, am fünften 28. Fast die Hälfte des Weges - 108 Kilometer - waren geschafft; am Abend des fünften Tages waren sie an einem schmutzigen, schiefen Schild vorbeigekommen, welches sie darüber informiert hatte, dass sie das ehemalige Gebiet Brandenburgs betraten. Aber was brachte das, wenn ihre Nahrung aufgebraucht war?
Jake versuchte, die letzte Mahlzeit für den Morgen des sechsten Tages aufzuheben, aber nachdem es sowohl ihm als auch Daisy eine dreiviertel Stunde lang nicht gelungen war, mit knurrendem Magen einzuschlafen, gab er diese Idee auf und bereitete sie zu.
Der sechste Tag war grauenvoll. Die erste Stunde nach dem Aufstehen war noch erträglich, weil sie beide daran gewöhnt waren, nicht immer direkt nach dem Aufwachen Essen zur Hand zu haben. Danach grub sich der Hunger mit jedem Schritt tiefer in ihre Mägen. Die nagenden Zweifel am Sinn ihrer Wanderung, die die beiden nie ganz hatten vertreiben konnten, ließen sich nicht mehr ignorieren. Es war Wahnsinn gewesen, nach Berlin zu wollen. Sie hätten sich eine Strecke suchen sollen, bei der sie sicher waren, dass zumindest einige der Dörfer an den Gleisen noch bewohnt waren, so dass sie ihre Vorräte aufstocken konnten. Welcher Teufel hatte sie geritten? Aber jetzt war es zu spät. Aufgeben bedeutete den sicheren Tod, Weiterlaufen den fast sicheren, nur unter noch stärkeren Schmerzen. Aber Jake weigerte sich, aufzugeben. Er nahm Daisy bei der Hand und zog sie mit sich. Nur noch bis zum nächsten 200-Meter-Schild, das an jedem dritten der Masten, die ursprünglich die längst zerrissenen und heruntergefallenen Stromkabel gehalten hatten, befestigt war. Und dann zum nächsten. Und zum nächsten. Sie verließen ein Waldstück und hinter einer Kurve wurde ein Bahnhof sichtbar, vielleicht noch zwei Kilometer entfernt.
„Dorthin laufen wir noch, okay?", fragte Jake.
„Und dann?"
„Keine Ahnung. Legen wir uns in den Schatten. Vielleicht findet uns wer."
„Es ist sinnlos. Warum sollten gerade in diesem Dorf noch Menschen sein?"
„Keine Ahnung. Es liegt ziemlich in der Mitte des Weges. Wenn ich entkräftete Reisende aus beiden Richtungen am effektivsten unterstützen wollen würde, würde ich wahrscheinlich an der Hälfte der Strecke warten."
„Wenn du sie ausrauben, abmurksen und essen wollen würdest aber auch."
Darauf wusste Jake nichts zu antworten. Trotzdem lief er weiter. Er war zu schwach, um es in irgendeiner Form auszudrücken, aber er war unendlich dankbar, dass Daisy ihm weiter folgte. Allmählich wurde ihm übel vor Hunger. Der Horizont schien zu schwanken. Er konnte jetzt die Schilder zählen, die sie noch passieren mussten. Noch 800 Meter, noch 600, 400... Auf den letzten 200 Metern stolperte er mehrmals beinah. Sein Kopf war leer und voll zugleich. Mit letzter Kraft stieg er auf den Bahnsteig, taumelte in das verlassene Bahnhofshäuschen, legte sich auf den Boden und schlief vor Erschöpfung ein.

Hamburg 2103Where stories live. Discover now