6.

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Als ich aufwachte, musste ich mich erst einmal sammeln. Ich lag nicht mehr auf dem Sofa, soviel stand fest. Ich dachte, vielleicht war das gestern alles nur ein schlechter Traum gewesen. Ich lag zu Hause in meinem eigenen Bett, zusammen mit Noah. Ich habe ihn also doch nicht mit dieser spindeldürren Blondine im Bett erwischt.

Ich blinzelte ein paar Mal und schon kam die Erkenntnis. Es war nicht zu Hause. Ich war in einem fremden Zimmer. Ich richtete mich auf und rieb mir die Augen. Ich überlegte kurz. Da ich gestern zu Class gegangen bin und das letzte woran ich mich erinnern konnte ist, dass ich auf der Couch neben Pi eingeschlafen bin...warte! Ist das hier etwa Pi's Zimmer? Wie bin ich denn hier gekommen? Ich kann mich nicht erinnern hier reingegangen zu sein. Und überhaupt, es ist sein Zimmer, was hatte ich hier also schon zu suchen?
Ich sah mich um. Das Zimmer war ziemlich stylisch eingerichtet. Helle Möbel und dunkle Deko. Eigentlich ziemlich cool. Eine Sache fiel mir sofort ins Auge. Eine Pinnwand voll mit schwarz-weiß Fotos. Ich stand auf und sah es mir von Nahem an. Die Bilder waren ziemlich gut getroffen, das Licht war super und die Motive waren spitze. Sie zeigten die verschiedensten Dinge. Von Naturbildern, bis hin zu Urlaubsbildern. Ich lächelte etwas.

Ich ging in die Küche und durfte feststellen, dass ich allein war. Wahrscheinlich war das auch besser so. Ich schätze ich brauchte jetzt einfach etwas Ruhe. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand setzte ich mich an den Küchentisch. Sofort schweiften meine Gedanken ab. Den ersten Schock von gestern hatte ich überwunden. Ich konnte an das Geschehene denken, ohne gleich wieder in Tränen auszubrechen. Oder ich war einfach komplett ausgetrocknet und somit nicht mehr in der Lage zu weinen. Meine Augen taten mir immer noch weh.
Ich blickte auf die Uhr. Kurz nach 10.

Nachdem ich mich gezwungen habe, zumindest einen Toast zu essen, ging ich ins Bad und nahm eine lange, heiße Dusche.
Danach schnappte ich mir bequeme Klamotten und schmiss mich aufs Sofa. Ich klickte durch diverse Fernsehprogramme und schaute eine langweilige und sinnlose Sitcom nach der anderen an.
Irgendwann hatte ich davon genug, schaltete den Fernseher ab und legte mich auf das Sofa. Ich war völlig fertig und wollte einfach nur schlafen. Dann plötzlich hörte ich die Wohnungstür auf und zugehen.

Ich sah zur Tür, die das Wohnzimmer vom Flur trennte. Sekunden später stand Class im Türrahmen. Er blieb stehen und sah mich an. Dann kam er auf mich zu und breitete er seine Arme aus. Ich lief ihm entgegen. Als er mich umarmte konnte ich nicht anders. Wieder liefen mir Tränen über die Wangen. Ich war froh, dass mein großer Bruder da war. „Ich hab gehört, was passiert ist.", sagte er. Ich schätze mal, Pi hat ihm erzählt, was Sache ist.

Wir setzten uns auf das Sofa und ich kuschelte mich wieder in die Decke hinein. „Wie gehts dir?", fragte Class vorsichtig. „Beschissen.", gab ich offen und ehrlich zu. „Wieso hast du nicht angerufen?", fragte er und sah mich besorgt an. „Du hattest doch ein Date, da wollte ich dich nicht stören...", schniefte ich. Er blieb still und nickte nur.
Ich zog eine Augenbraue hoch und lächelte sogar. „So so, Kira, huh?". Sofort hatte Class das größte Lächeln auf dem Gesicht. Er berichtete mir ausführlich von seinem Date und ich war so glücklich ihn so zu sehen. Seine letzte Beziehung war schon eine Weile her und die hatte auch nicht so prickelnd geendet...sieht wohl so aus, als hätten wir beide kein Glück.
Aber es kann ja nur besser werden. Und das wünsche ich meinem Bruder. Mehr als alles andere.
„Und wie soll es jetzt weiter gehen?", fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte absolut keine Ahnung... „Du kannst erstmal hierbleiben wenn du willst.", Class lächelte. So sehr ich das Angebot auch schätzte, es ging nicht. „Du hast doch jetzt einen Mitbewohner, ich würde da bestimmt nur stören.". Er hebt seinen Finger. „Also erst einmal störst du überhaupt nicht und zweitens, ich dachte du und Pi habt das geklärt und kommt nun besser miteinander aus.". „Das tun wir ja auch, aber...", doch Class unterbrach mich sofort. „Kein aber!".

Obwohl ich noch nicht völlig überzeugt war, weil ich weder Class, noch Pi, zur Last fallen wollte, willigte ich ein. Immerhin war es besser als in irgendeinem Hotel oder gar im Auto zu schlafen.

„Wieso hast du eigentlich nicht erzählt, das Pi dein neues Mitbewohner ist?", fragte ich. „War ne ziemlich spontane Entscheidung. Er hat vorher am anderen Ende der Stadt gelebt, also haben wir gedacht, dass er hier wohnen könnte, damit es nicht mehr so weit zum Studio ist."
Das klang eigentlich ziemlich einleuchtend.

Wieder redeten noch eine ganze Weile über verschiedenes Zeug. Nach 3 Uhr kam Pi nach Hause. Er begrüßte uns, schenkte mir ein kleines Lächeln und verschwand in seinem Zimmer.
Class und ich redeten noch eine Weile, bis er wieder aufbrach, um Kira auf Arbeit zu überraschen. Mit den Worten „Du weißt, ich bin immer da für dich." verließ er das Zimmer und kurze Zeit später auch die Wohnung.

Ich sah, dass Pi durch den Flur ging und in die Küche bog, also beschloss ich, ihm zu folgen. Dort angekommen stand er vorm Kühlschrank und suchte sich etwas zu Essen. „Hey.", sagte ich leise. „Hi.", gab er zurück und lächelte. „Wie gehts dir?", fragte er. „Nicht viel besser.", gab ich zu. Er nickte und sagte: „Verständlicherweise."
Ich sah ihn an und musste dann einfach fragen: „Sag mal...hast du mich letzte Nacht in dein Zimmer gebracht?". Sein Blick schnellte zu mir. „Ja, hab ich. Aber keine Sorge, ich hab auf dem Sofa geschlafen."
„Warum?", fragte ich. Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte einfach nett sein. Ist wirklich keine große Sache."
Ich dachte kurz über seine Worte nach. Es war wirklich lieb von ihm gewesen. Ich lächelte. „Danke, ich schätze ich bin dir was schuldig.". Er lachte kurz und sah mich dann an.
Eine merkwürdige Stille entstand. „Naja, ich geh dann mal.", sagte ich und verließ die Küche.

Was war das denn gerade?

My NightingaleWhere stories live. Discover now