23.

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Lilith fuhr mich mit zu ihr nach Hause. Sie meinte ich könnte erstmal bei ihr bleiben. Später, als wir so zusammensaßen erzählte ich ihr was passiert war. Ich versuchte nicht zu weinen, doch das fiel mir echt schwer.
„Du kannst solange hierbleiben, wie du willst.", meinte sie am Ende. Ich dankte ihr hunderte Male.
Ich hatte keine Ahnung, was ich sonst hätte machen können. Doch feststand, dass ich mir wohl schnell etwas eigenes suchen musste. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe weiterhin bei Class zu wohnen...

Als ich auf mein Handy schaute, fiel mir auf, dass er inzwischen aufgegeben hatte mich zu erreichen. Auf der einen Seite war ich froh darüber. Doch auf der anderen Seite tat es weh...nein Ally! So darfst du nicht denken. Es ist besser so. Je früher du dir das eingestehst, desto besser.

Ich schlief in dieser Nacht auf dem Sofa. Ich konnte nicht ganz fassen, dass ich wirklich wieder in Hamburg war. Heute morgen noch dachte ich, dass noch die nächsten Tage in England genießen könnte, trotz des Streits mit Class. Und jetzt? Jetzt lag ich hier. Völlig fertig, sowohl physisch, als auch psychisch...

In dieser Nacht träumte ich von Pi.
Wir saßen gemeinsam auf der Couch und schauten einen Film. Wir lachten viel und ich genoss jede Sekunde mit ihm. Es war eine Zeit in der wir noch glücklich waren. Bevor dieser ganze Stress angefangen hat. Eine Zeit, die wir zwar für uns behielten und es sich so anfühlte, als wäre es nur wir gegen den Rest der Welt. Vielleicht war es auch so.
Er küsste mich und lächelte mich an.
...doch plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Zu sehen war nur noch sein verletztes Gesicht, in seinen Augen waren Tränen. „Wieso hast du mir das angetan?", fragte er.
Und dann verschwamm meine Sicht...

Ich wachte auf. Meine Wangen waren tränennass und ich zitterte leicht. Mir war richtig schlecht. Der Traum ließ mich nicht mehr los und spielte sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab. Meine Schuldgefühle waren stärker denn je und ich begann wieder zu weinen. So lange, bis ich schließlich irgendwann wieder einschlief.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich hundeelend. Meine Augen taten mir weh und fühlten sich richtig dick an. Auch mein Kopf brummte. Ich fühlte mich immer noch vollkommen ausgelaugt. Ich stand auf und tapste in die Küche. Auf dem Tisch lag ein Zettel.

Guten Morgen Sonnenschein! Bin schon auf Arbeit :) mach dir einen tollen Tag und fühl dich ganz wie zu Hause!

Ich war froh, bei Lilith zu sein.
Ich hatte keinen großen Hunger, also trank ich nur einen Kaffee. Dann ging ich ins Bad. Als ich in den Spiegel sah, erschrak ich. Ich sah furchtbar aus.
Ich machte mich fertig. Na gut, so gut es nun mal ging und ließ mich danach wieder auf dem Sofa nieder. Und jetzt? Tja, gute Frage.
Ich dachte darüber nach, ob ich vielleicht meine Sachen holen sollte. Immerhin war keiner zu Hause und ich konnte ohne Probleme mein Zeug aus Class' Wohnung holen, ohne dass mich jemand auftreffen würde.
Also machte ich mich auf den Weg. Je näher ich der Wohnung kam, desto mehr zog sich mein Magen zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so ein Gefühl gehabt zu haben, während ich die Treppen hinauf zu der Wohnung meines Bruders ging.
Ich steckte den Schlüssel rein und öffnete die Tür.

Drinnen war es so ruhig, dass es fast schon gruselig war. Es fühlte sich seltsam an. Doch ich wollte keine Zeit verlieren. Ich nahm mir eine Tasche aus dem Schrank und begann, meine Sachen einzusortieren. Zumindest erstmal das Wichtigste. Klamotten, ein paar Bücher, meine Kameras.
Auch meine Polaroidkamera hielt ich in der Hand. Es versetzte mir einen Stich. Sofort kamen so viele Erinnerungen hoch. Ich blinzelte schnell die Tränen weg. Ich konnte sie nicht behalten. Sie würde mich an so vieles erinnern...

Ich ging schon fast völlig gedankenverloren in der Wohnung umher und schaute, was ich noch einpacken musste, als ich plötzlich vor Pi's Zimmertür stehen blieb. Ich sollte da nicht rein gehen. Doch ehe ich richtig nachdenken konnte, was ich tat öffnete ich die Tür. Es war komisch, hier zu sein. Es fühlte sich nicht falsch an, aber so wirklich richtig war es auch nicht.
Ich stand vor seinem Schreibtisch, auf denen viele Blätter lagen. Einige davon waren Notenblätter, weil ich wusste, dass er immer Gitarre spielte und neue Sachen ausprobierte und dokumentierte.
Auf dem Boden lag eines seiner T-Shirt. Ich hob es auf und lächelte kurz. Er ließ auch wirklich überall sein Zeug rumliegen, dachte ich. Ich legte es etwas zusammen und ging zum Schrank, um es wegzuräumen. Als ich den Schank öffnete fiel mir eine Jacke ins Auge, welche er mir manchmal geliehen hat. Sie war warm und kuschelig. Ich nahm sie auf dem Schrank. Ich strich mit den Daumen über das weiche Material. Und schließlich zog ich sie an. Sie roch nach ihm und ich schloss kurz die Augen.
Ich setzte mich auf das Bett. Wie oft bin ich hier ein seinen Armen eingeschlafen und wurde zärtlich mit Küssen von ihm geweckt? Wie oft lagen wir einfach nur so das und starrten an die Decke, während wir über Gott und die Welt redeten? An all das zu denken war schwer.
Das musste ich nun alles hinter mir lassen.
Ich sah mich noch einmal um. Auf dem Nachttisch lagen noch zwei Bücher. Ein Buch davon gehörte mir. Eins meiner Lieblingsbücher, um genau zu sein. Ich stand auf um es mir zu holen. Als ich es in die Hand nahm stieß ich versehentlich gegen das andere, sodass es zu Boden fiel. Ich hob es auf und sah ein Foto, welches aus dem Buch geflogen war.

Ich hob es auf und schaute es an. Darauf zu sehen war ich und Pi. Ich hatte die Augen geschlossen und schlief wohl offensichtlich gerade. Immerhin würde ich mich sonst daran erinnern! Pi, der wohl das Foto geschossen hatte, hatte sich an mich gekuschelt und sein Gesicht in meinem Nacken vergraben. Er lächelte.
Ich wusste nicht, dass dieses Foto überhaupt existierte, was in mir den Gedanke weckte, gab es noch mehr solche Fotos?
Wir hatten nie besonders viele Bilder zusammen gemacht, und selbst wenn haben wir sie immer versteckt und darauf geachtet, dass sie niemand sieht. Doch was wenn er mehr gemacht hat, als ich dachte. Wie viele unserer schönen Momente hatte er festgehalten?
Während ich so drüber nachdachte kam alles wieder hoch. Der ganze Schmerz überrollte mich und erdrückte mich regelrecht.
Ich ließ mich wieder auf das Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Händen, als ich immer und immer wieder einen lauten Schluchzer von mir gab.

Irgendwann hatte ich schließlich aufgehört zu weinen. Ich musste aus dieser Wohnung, bevor ich völlig zusammenbrach. Ich sammelte die restlichen Sachen zusammen und stopfte sie in die Tasche.

Ich legte die Polaroidkamera und das Bild, was ich gefunden hatte, auf Pi's Bett. „Es tut mir leid.", war das Letzte was ich sagte, bevor ich sein Zimmer und dann auch noch die Wohnung verließ.
Das hier fühlte sich nicht mehr wie mein zweites zu Hause an. Und ich gab mir selbst die Schuld dafür. Ich hatte alles kaputt gemacht...

My NightingaleWhere stories live. Discover now