Kapitel 18

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Der Schock saß immer noch tief in meinen Knochen, als ich um halb elf zum Bahnhof King's Cross apparierte. Meine Hände zitterten, als ich meinen Koffer und Ves Tragetasche auf einen Gepäckwagen hievte.
Ich konnte einfach nicht ganz realisieren was passiert war, besser gesagt, ich hatte Angst davor, es mir einzugestehen.
James Potter hasste mich. Und traurigerweise hatte er sogar einen berechtigten Grund dafür. Ich schauderte bei dem Gedanken an all die hässlichen Dinge, die er hatte lesen müssen. Nachdem ich weit genug von James' Haus entfernt gewesen war, war ich nach London appariert, wo ich das rote Buch sofort in einem der Mülleimer versenkt hatte. Den Rest der Zeit hatte ich damit verbracht, trübselig auf einer Parkbank zu sitzen und auf ein Schulbuch zu starren, ohne die Wörter, die ich las, zu verinnerlichen.
Wie konnte das nur passieren? Wir hatten uns die letzten Wochen ganz gut verstanden ... es hatte mir dort sogar gefallen.
Aber jetzt ... jetzt hatte James den Spieß umgedreht. Nun hasste er mich.
Und ich? Ich hatte gerade angefangen, meine Abneigung ihm gegenüber abzulegen.
Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und ließ mich kurz gehen. Warum hatte das nur passieren müssen? Warum ausgerechnet jetzt?
Ein gereiztes Miauen riss mich aus meinem Selbstmitleid. Ve schaute mich vorwurfsvoll an, als wolle sie sagen: „Hast du mal genug geheult, oder was?"
„Hast ja recht, Süße", murmelte ich. Ich hatte mich in diese Scheiße hineingeritten, und ich würde sie auch ausbaden müssen. Und so schlimm war es doch gar nicht. Es war ja nur Potter, der Idiot... oder?

„LILY!"
Kaum hatte ich das Gleis betreten, wurde ich auch schon überrannt. Meine drei besten Freundinnen stürzten sich auf mich wie hungrige Geier auf ein Stück Aas.
„Leute, bitte!", schnaufte ich, während sie mich in eine innige Gruppenumarmung zogen, die mich beinahe zerquetscht hätte.
„ICH HAB DICH SO VERMISST!", schrie Marlene direkt neben meinem Ohr. Ich quittierte ihren Liebesbeweis, indem ich mein Gesicht verzog.
Merlin sei dank waren nicht alle meine Freunde so verrückt.
Mary, leise und zurückhaltend wie eh und je, lächelte mich lieb an, während Dorcas mich bereits vergessen zu haben schien und ihre Aufmerksamkeit einer Gruppe Jungs schenkte, die ganz in der Nähe stand. Ab und an warfen sie verstohlene Blick in unsere Richtung. Dorcas grinste ihnen charmant zu, was einige zum Erröten brachte.
„Dor, die sind vielleicht in der fünften Klasse", flüsterte Mary ihr zu.
Das schien Dorcas nicht weiter zu kümmern. Sie zwinkerte einem Rotschopf zu, bevor sie sich wieder uns zuwandte.
„Also, Lily", begann sie grinsend. „Sag es uns."
Was? Was sollte ich ihr sagen? Wusste sie etwa von der Evans- übernachtet- bei- Potter- Sache? Oh, Merlin, verschone mich!
„W- was?", quietschte ich. Ich räusperte mich.
„Na, ob du die Schulsprecherin geworden bist", erklärte Dor ungeduldig. „Komm schon, ich hab eine Wette um fünf Galleonen am Laufen!"
„Ich – ihr habt gewettet?" Missbilligend schob ich meine Augenbrauen zusammen und für einen kurzen Moment überdeckte mein Unbehagen den dumpfen Schmerz in meiner Brust. Blöder Potter!
Dorcas rollte mit den Augen. „Sa-hag!", quengelte sie nur.
„Ähm – ja, bin ich."
Alle drei jubelten und fingen schon wieder an, mich zu zerquetschen.
„Wo ist das Abzeichen?"
„Hast du dich sehr gefreut?"
„Dumme Frage, ich wette sie ist ausgerastet!"
„Warum hast du uns eigentlich keinen Brief geschrieben?"
Ergeben hob ich meine Hände. „Leute, bitte! Ich erzähle euch alles der Reihe nach."
Bis fünf vor elf lenkte mich das unbeschwerte Gespräch mit meinen Freundinnen erfolgreich ab, doch irgendwann musste ich mich von ihnen trennen, um das Schulsprecherabteil aufzusuchen.
Mary, Marlene und Dor reagierten genauso geschockt darauf, dass James Schulsprecher war, wie ich.
„Das kann nicht sein!" Marys blaugraue Augen hatten die Größe von Tellern erreicht, derweil hatte Marlene nur die Frechheit besessen, mich auszulachen.
„Bei Merlins weißem Bart", hatte Dorcas' Kommentar gelautet, die auf den Schock gleich mal in einen Schokomuffin gebissen hatte (sie war die molligste von uns, hatte dafür aber auch die schönsten Kurven).
Sie hatten mir alle mehr oder weniger ernst ihr Mitleid bekundet, bevor sie sich ein eigenes Abteil gesucht hatten.
Seufzend zerrte ich meinen Koffer den Bahnsteig entlang nach vorne, zu den verdunkelten Scheiben der Lok.
Ich hatte schon einiges über das Abteil der Schulsprecher gelesen, doch als ich dann drinnen stand, haute es mich trotzdem um: Bequeme Sessel, ein eigener Essensvorrat und jede Menge Platz.
Gerade wollte ich mir innerlich gratulieren, dass ich tatsächlich Schulsprecherin geworden war, als mich jemand von hinten anschnauzte.
„Gehst du jetzt auch mal durch oder wollen wir hier festwachsen?"
Erschrocken stolperte ich ins Abteil und fiel hin, dabei prallte ich gegen meinen Koffer, der umkippte und auf Ves' Box zu landen drohte. Ich schloss panisch die Augen; ich wollte nicht sehen, wie mein geliebtes Haustier zerquetscht wurde.
Doch das Geräusch des Aufpralls blieb aus, ebenso das gequälte Miauen, das ich mir im Bruchteil einer Sekunde ausgemalt hatte.
Ängstlich öffnete ich erst ein Auge, dann das andere. Da stand James, der anscheinend reflexartig nach dem Koffer gegriffen hatte und somit weitere Unfälle verhindert hatte.
Leider musste ich zugeben, dass mein Herz kurz einen Sprung machte, als ich ihn sah. Auch er trug bereits seine Uniform, die ihm aber viel besser als mir stand. Wieso war mir nie aufgefallen, wie sexy diese Krawatten aussahen?
Meine Augen wanderten von seinem Hemd zu seinem Gesicht, und der verschlossene Ausdruck darauf holte mich augenblicklich in die Realität zurück.
Die Realität, in der James mich hasste.
Oh, wie dramatisch ich doch sein konnte, wenn ich gerade am Boden saß und über meinen Koffer gestolpert war.
„Danke", sagte ich leise, rappelte mich hoch und klopfte mir den Staub von der Uniform. Darauf bedacht, seine Hand nicht zu berühren, nahm ich ihm den Koffer ab und verstaute ihn in der Ecke. Ve befreite ich aus ihrem Käfig und ließ sie auf den Sesseln herumtollen.
James sagte kein Wort. Sein ganzer Körper drückte seine Abweisung aus, sowohl als er seinen Koffer neben meinen stellte, als auch als er sich in einen Sessel setzte, der am weitesten von meinem entfernt war.
„Sollen wir gleich durch den Zug patrouillieren, Evans?"
Bei seinem schroffen Tonfall zuckte ich zusammen. Gleichzeitig bemerkte ich, dass mein ganzer Körper von einer Gänsehaut bedeckt war.
Aber ich war entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen.
James hatte hier in meinem Tagebuch gelesen. So erging es nun mal dem Lauscher an der Wand – das konnte ich aus eigner Erfahrung bezeugen. Und hätte er mir eine Chance gegeben, die Liste zu erklären, wüsste er, dass sie ziemlich veraltet war.
Aber gut – er wollte die kalte Schulter? Konnte er haben.
„Ich würde sagen, wir weisen zuerst die Vertrauensschüler ein, Potter", erwiderte ich daher so kalt wie ich konnte.
„Dann los." Ohne sich noch ein weiteres Mal nach mir umzusehen, rauschte er aus dem Abteil.
Für einen kurzen Moment blickte ich ihm traurig hinterher.
Dann riss ich mich zusammen. Ich hatte mich jahrelang auf diesen Job gefreut – ich würde mir das nicht von James Potters' schlechter Laune verderben lassen.


Die Regel - Lily& James Ff ✔️Where stories live. Discover now