Kapitel 45

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„Mary...", begann ich vorsichtig.
Ich war ihr eine Erklärung schuldig.
„Pssst", unterbrach sie mich. „Lass uns draußen reden. Hier sind zu viele Menschen. Und auch wenn die meisten stockbesoffen sind, man weiß nie, wer doch mehr mitbekommt als er zugibt."
Ich nickte gedankenverloren.
Mit einiger Mühe gelang es mir, mich aus der Badewanne aufzurappeln. Schweigend reichte Mary mir ein Handtuch, das ich dankend annahm und mich grob trocken rubbelte, bevor ich einfach einen Trockenzauber auf mich legte.
Ich rümpfte die Nase. Meine Haare sahen und rochen zwar wieder nach einem lebendigen Menschen, der Rest von mir wohl eher nicht.
„Komm", forderte meine Freundin mich auf, die schon an der Tür stand, mit der Klinke in der Hand. „Lass uns einen Spaziergang um den See machen."
„Hast du einen Mantel oder so?", fragte ich, und deutete auf ihre und meine leichte Bekleidung.
Ihre Antwort bestand aus einem Kopfschütteln. „Die Kälte wird dich wachmachen."
Das bezweifelte ich nicht, nur wollte ich nicht unbedingt wach sein.
Die Realität sah absolut nicht schön aus.
Ich wünschte mir den Nebel des Alkohols zurück.
Trotzdem folgte ich Mary aus dem zum Partyraum umfunktionierten Wohnbereich hinaus in den düsteren Schlossflur, ohne auch nur einen weiteren Tropfen Alkohol anzunehmen.
Der Weg hinaus aufs Schlossgelände verlief schweigend, ich bemerkte lediglich, wie Mary mich ab und zu forschend von der Seite musterte, als hätte sie Angst, dass ich gleich einen Nervenzusammenbruch bekam.
Ich konnte es ihr nicht verdenken.
Es hieß, dass Schmerz im Menschen entweder das Beste oder das Schlechteste hervorbrachte. In welche Kategorie sich zu betrinken und alles zu ignorieren gehörte, war wohl nicht sonderlich schwer zu sagen.
Erst, als wir am Ufer des Sees, der im Mondlicht schwarz glitzerte, angekommen waren und uns im feuchten Gras niederließen, begann Mary zu sprechen.
„Was ist passiert?"
Die Frage überraschte mich. Normalerweise redete Mary immer erst ein bisschen um den heißen Brei herum. So direkt war sie selten.
Ich seufzte und schwieg erstmal. Mary überließ mich meinen Gedanken und drängte nicht auf eine Antwort.
Eine Weile starrten wir beide nur auf die bewegungslose Wasseroberfläche.
Es war eine klare Nacht, wolkenlos und für Anfang November noch nicht allzu kühl, man fröstelte höchstens ein wenig.
Ich fragte mich, warum es nicht immer so still und friedlich sein konnte, wie hier, nachts, an einem verlassenen Seeufer mit einer guten Freundin.
Mir traten Tränen in die Augen.
„Meine Eltern ... sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen", brachte ich schließlich stockend über die Lippen.
Mary schaute mich an. Ihr Blick drückte tiefen Schmerz, Mitgefühl und ... Verständnis aus. Zu meinem Entsetzen bildeten sich auch in ihren Augen Tränen.
„Oh Lily", flüsterte sie. „Es tut mir so leid. Ich weiß genau, wie du dich fühlst."
„Was meinst du damit?" Ich traute mich fast gar nicht zu fragen.
„Meine Schwestern ... sie wurden von Todessern ermordet."
Mary presste voller Schmerz die Augen zusammen, einige Tränen rollten über ihre Wangen.
„Oh mein Gott", war alles was ich hervorbrachte.
Im selben Moment streckten wir die Arme nacheinander aus und hielten uns fest, zwei gebrochene Menschen, die sich aneinanderklammerten.
Es war die eine Sache, von jemanden getröstet zu werden, der einen bemitleidete.
Aber es war etwas ganz anderes, sich an jemanden festzuhalten, der den gleichen Schmerz spürte und wirklich und wahrhaftig verstand, wie es einem ging.
Ich musste an den Abend von Halloween denken, bevor ich den Brief gefunden hatte.
Marys Atem hatte nach Feuerwhiskey gerochen, dabei trank sie sonst nicht.
Wieso hatte ich sie nicht darauf angesprochen? Ich hatte doch gewusst, dass ihre Familie in Gefahr schwebte. Hatte Mary etwa ganz allein mit ihrem Schmerz fertig werden müssen? Seit wann schleppte sie das nun schon mit sich herum?
In diesem Moment wurde mir klar, wie gut es getan hatte, dass James mich in jener Nacht nicht alleingelassen hatte.
„Warum hast du nicht mit uns geredet?", fragte ich irgendwann leise, nachdem unser stetiges Schluchzen abgeebbt war und ich mich wieder in der Lage fühlte, zu sprechen.
„Warum hast du nicht mit uns geredet?", stellte Mary die Gegenfrage, und ich nickte verstehend.
Ich hatte mit niemanden reden wollen, es machte Sinn, dass es Mary genauso gegangen war ... oder ging.
„Ziemlich scheiße das alles", sagte Mary grimmig.
Wir hielten einander immer noch im Arm, doch nun sahen wir beide wieder auf den See.
„Was du nicht sagst."
„Kriege, Unfälle, sich besaufen, Morde. Wozu das alles? Was bringt denn das? Tote! Verletzte! Weinende Familienangehörige! Wozu? Wozu nur?"
Wütend riss Mary ein paar Grashalme aus und schmiss sie ins Seewasser.
„Ich hasse Todesser! Dieser ganze Rassismus, diese Reinblutfanatik, das ist alles so ein Mist! Und meine Schwestern müssen dran glauben! Sie waren doch noch Kinder, verdammt! Wer ist denn so grausam? Wer?!"
„Und wir sitzen hier in diesem beschissenen Schloss fest und machen uns Sorgen über unsere nächste Hausarbeit", fügte ich eher traurig als wütend hinzu.
„Ja. Genau das ist der Punkt", schloss Mary düster.
Ihre Schultern fielen in sich zusammen, die Anspannung wich aus ihren Muskeln. Sie schaute mich traurig an.
„Oh, Lily. Das ist alles so unfair."
Ich zog sie noch ein bisschen enger zu mir. „Ist es. Es ist scheiße."
Ein einvernehmliches Schweigen folgte, nur durchbrochen von Marys gelegentlichem Schniefen.
„Wie wirst du damit fertig?", murmelte ich leise in ihr Haar.
Mary schüttelte den Kopf, der an meiner Brust ruhte. „Gar nicht."
„Ich auch nicht", flüsterte ich und schloss schmerzerfüllt die Augen. Mein Gesicht verzerrte sich und ich fing wieder an zu weinen.
„Ich möchte den Schmerz einfach nur vergessen", erklärte ich. Die Worte kamen nur mühsam und beinahe gehaucht über meine Lippen. „Es ist, als würde es mich von innen heraus auffressen, und alles was ich machen kann, ist, an sie zu denken, und das macht alles nur noch schlimmer. Sie hatten noch so viel Zeit. Und gleichzeitig ... gleichzeitig mache ich mir solche Vorwürfe, verstehst du? Ich meine, was war ich denn für eine Tochter! Ich bin für neun Monate im Jahr einfach in ein Internat verschwunden und alles was sie bekamen waren ein paar Briefe. Ich ... ich hätte mehr für sie da sein sollen."
Mary schlang ihre Arme ganz fest um mich. „Nein, Lily, sag so etwas nicht. Du bist ein eigenständiges, kluges Mädchen, und soweit ich das beurteilen kann, waren deine Eltern furchtbar stolz auf dich. Woher hättest du denn wissen sollen, dass euch nur noch so wenig gemeinsame Zeit bleibt? Es bringt nichts, die jetzt Vorwürfe zu machen, hörst du?"
„Mary?"
Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren rotgeweint und ihre Haut fleckig.
„Ja?"
„Danke, danke für alles. Du bist eine echte Freundin. Dir geht es selbst beschissen, aber du hast mich aus der blöden Sauferei rausgeholt und deinen Schmerz mit mir geteilt. Danke, dass du für mich da bist. Du bist eine wundervolle Person... Wenigstens haben deine Eltern dich noch."
Wir fingen beide wieder an, bitterlich zu weinen.
„Scheiße, sind wir sentimental", brachte Mary irgendwann mit einem halben Lacher hervor.
„Ja. Scheiße."

Ist Mary nicht einfach eine tolle Freundin? ❤️

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Where stories live. Discover now