Kapitel 110

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„Marlene!"
Ich war entsetzt, als ich meine sonst so muntere Freundin zusammengesunken am Frühstückstisch sitzen sah.
Obwohl sie lediglich einen kurzen Blick über die Schulter warf, um zu sehen, wer sie da gerufen hatte, bemerkte ich, wie rotgeweint ihre Augen waren.
Sofort überrollte mich eine LKW-Ladung Hass auf Hugo.
„Wenn ich den in die Finger kriege, zerhacke ich ihn in zentimetergroße Stücke", flüsterte ich Dorcas zu.
Sie nickte grimmig. „Und ich kaue dann nochmal genüsslich darauf herum."
„Ich bezweifle, dass etwas so vollkommen Verdorbenes noch schmeckt", gab ich zu Bedenken, bevor wir uns links und rechts neben Marlene fallen ließen.

Mary rutschte mit einem dankbaren Blick in meine Richtung zur Seite.
Ich glaubte sie etwas, das verdächtig nach „Dramaqueen" klang, knurren zu hören.
Na, das konnte ja heiter werden.
Marlene übertrieb immer gerne.
Und das galt nicht nur für negative Gefühle, eher im Gegenteil.
Wenn sie glücklich war, konnte sie ein nervtötendes Energiebündel sein, das nicht zu gehen, sondern zu hüpfen schien.
Andersrum kroch sie allerdings gleich über den Boden, wenn auch nur das kleinste Unglück passierte.
Natürlich bedeutete das nicht, dass sie nicht wirklich traurig war.
Doch man merkte, dass sie es genoss, sich in ihren Emotionen gehen zu lassen und dafür die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen.

Innerlich wappnete ich mich schonmal der großen Heulerei, die gleich folgen würde.
Dorcas warf mir über Marlenes gesenkten Kopf hinweg einen fragenden Blick zu, den ich mit einem Nicken erwiderte.
Mit der fachkundigen Miene eines Chirurgen beugte ich mich über meine Freundin und legte einen Arm um ihre Schulter.
„Hey, Marls. Wie geht's dir?"
Ein Wimmern war die Antwort und Marlenes Körper erbebte unter dem Gewicht meines Armes.
Ich strich ihr ein paar blonde Haarsträhnen hinters Ohr, um ihr Gesicht sehen zu können.
Sie hatte die Augen fest zusammengepresst und die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. Auf ihren Wangen glitzerten getrocknete Tränenspuren.

Mich durchflutete eine Welle der Zuneigung für meine beste Freundin.
Wie hatte Hugo sie nur verlassen können?
Marlene war absolut einzigartig.
Manchmal sehr nervtötend, ja.
Aber Marlene wusste, wie man gute Stimmung verbreitete, Marlene konnte die besten und flachsten Witze reißen, und niemand hatte seinen Besen so im Griff wie sie.
Mal abgesehen davon, dass sie wunderschön war.
Genau das sprach ich laut aus, woraufhin Marlene anfing zu weinen.
Ihr Schultern bebten und sie gab Laute von sich, die an ein verletztes Tier erinnerten.
Ein wenig hilflos saßen Dorcas und ich daneben und streichelten ihr übers Haar, während Mary mit grimmiger Miene einen Toast verzehrte.

Nach geraumer Zeit gab Marlene ein ersticktes „Und warum liebt er dann plötzlich eine andere?" von sich, und hob ihren Kopf, um uns alle der Reihe nach aus traurigen blauen Augen anzugucken.
„Er hat Minderwertigkeitskomplexe bekommen, weil er neben deiner Schönheit einfach nicht mehr zur Geltung gekommen ist", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen.
„Und sei doch froh, dass jetzt eine andere seinen haarigen Bauch abknutschen muss", fügte Dorcas hinzu.
Gleich darauf schrie sie vor Schmerz auf.
Ich vermutete, dass Mary sie unter dem Tisch getreten hatte.

„Die Haare haben mich aber gar nicht gestört", jammerte Marlene.
„Wer ist denn diese ach- so- perfekte Neue überhaupt?", lenkte ich schnell vom Thema ab, um die Bilder des oberkörperfreien Hugos schnellstmöglich aus dem Kopf zu kriegen.
Marlene drehte sich zu mir und starrte mich mit einer Miene an, als hätte Hugo sie für einen Nacktmull verlassen.
„Holly", sagt sie ganz einfach.
Okay, da hatte ich mit dem Nacktmull ja gar nicht so falsch gelegen.

„Holly", wiederholte ich, wobei ich ihren Namen eher ausspuckte. „Hatte die nicht eigentlich was mit diesem Loui?"
Marlene nickte deprimiert.
„Warum hat sie's dann nötig, sich dauernd an unsere Jungs ranzumachen?", regte ich mich auf.
„Es wird Zeit für eine erneute Tortenschlacht, wenn ihr mich fragt."
Ich drehte mich um und scannte die Halle nach der hübschen Hufflepuff ab.
Holly sammelte dieses Jahr nun wirklich keine Sympathiepunkte bei mir.
Es gab Menschen, die wollte ich einfach nur in die Verliese im Keller einsperren.
Und erst am Ende des Jahres wieder abholen.
Leider entdeckte ich die Zielperson meiner Abneigung nicht – vermutlich frühstückte sie nicht, um ihre Modelmaße nicht zu gefährden.
Schade. Sonst hätte mein Morgensport aus einem unkomplizierten Genickbruch bestehen können.
Eine gute Tat hätte ich damit auch gleich vollbracht.

„Ich ha- ha- haaaaasse sie", knirschte Marlene zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich drückte ihre Schulter. „Glaub mir, Schätzchen, ich auch."
„Ich will ihr jeden einzelnen ihrer beschissenen perfekten Zähne ausschlagen und sie dann zu einer Werbekampagne für Zahnpasta schicken", knurrte Marlene.
„So ist gut", bestärkte ich sie, „lass deiner Wut und Kreativität freien Lauf. Wozu einen elektrischen Stuhl besorgen, wenn es so viel effektivere Foltermethoden gibt?"
Dorcas betrachtete mich mit besorgter Miene.
„Was? Es ist gut, sie in Gefühlen zu bestärken, die nicht zu einer Depression führen", rechtfertigte ich mich.
„Du solltest sie aber auch nicht zu sehr auf ihren Hass fixieren", warf Mary ein.
„Holly hat es aber verdient", grummelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart.
Als beide mich vielsagend ansahen, gab ich mich seufzend geschlagen.
„Okay, okay, schon gut, ich bringe sie auf andere Gedanken."

Während Marlene also weiter Morddrohungen vor sich hin murmelte, machte ich ihr und mir ein paar Toasts, die ich sorgfältig einpackte und in meine Tasche steckte.
Als ich fertig war, stand ich auf und tippte Marlene auf die Schulter.
Sie ließ sich ungern aus ihrem Heulkrampf reißen, warf mir aber dennoch einen kurzen Blick zu.
„Los Marls, schwing deine hübschen Hüften auf die Ländereien."
„Ich will nicht rausgehen."
„Die frische Luft wird dir guttun."
„Nein."

Ich unterdrückte ein Stöhnen.
„Doch, das sagst du selbst immer. Na los, lass uns eine Runde laufen gehen und danach am See picknicken."
„Nein."
„Komm schon, es soll heute ganz warm werden! Vielleicht können wir zum ersten Mal in diesem Jahr baden gehen."
„Da erfrieren wir."
„Wenn du noch länger hier hocken bleibst und heulst, stirbst du sowieso wegen Flüssigkeitsmangel in deinem Körper."
„Den kann ich ja mit Feuerwhiskey aufbessern."
„Alkohol ist keine Lösung", wandte ich weise ein.
„Lüg doch nicht", murmelte Marlene, die den Kopf wieder zurück auf ihre Arme sinken ließ.

Ich bedeutete Mary und Dorcas mit einer etwas unfreundlichen Geste, mir mal behilflich zu sein.
„Marlene", begann Mary mit sanfter Stimme. „Es ist okay, traurig zu sein. Du darfst dich noch wochenlang in deinem Elend suhlen. Wir wissen alle, dass es nicht leicht ist, jemanden loszulassen. Aber ganz ehrlich – du kannst auf deinen eigenen Beinen stehen. Du brauchst keinen Hugo, um dich als irgendetwas zu definieren. Und vor allem kannst du auch ohne ihn glücklich sein."
„Ich will aber mit ihm glücklich sein!", kam es unter einem Berg aus blonden Haaren hervor.
„Du wirst jetzt erstmal mit Essen und mit körperlicher Bewegung glücklich sein", bestimmte ich.
Mein Geduldsfaden war endgültig gerissen.
Also zerrte ich die jammernde Marlene am Ellbogen hinter mir her, vorbei an einem verwirrten James und einem verstört dreinblickenden Sirius, die gerade zusammen die Große Halle betraten.
„Was ist denn mit der passiert?", rief Sirius uns hinterher.
„Ich wurde dabei erwischt, wie ich Mordpläne für dich geschmiedet habe und muss deswegen nach Askaban", fauchte Marlene ihn an, kurz bevor ich die schweren Türen hinter uns zuzog.

Die Regel - Lily& James Ff ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt