Verstehen - Das Recht auf seinen Tod

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"To save Dean Winchester, that was your goal, right?
You drape yourself in the flag of Heaven,
but ultimately, it was all about saving one human."
Metatron zu Castiel


Das diffuse Licht des Bunkers erhellte den großzügigen Raum. Sam hielt sich an der Tischplatte fest, seine Knöchel traten weiß hervor. Er hatte nur warten können. Nur warten. Denn er selbst hatte nichts mehr tun können, nur Castiel konnte es und er hatte den Engel machen lassen. Jetzt war das Warten vorbei. Und er wusste nicht, was schlimmer war. Es war klar, was er getan hatte. Sam hätte die Schreie nicht hören müssen, um zu wissen, welchen Preis Deans Leben hatte.

Damals hatte Dean ihm einen Engel aufgezwungen, um ihn zu heilen, obwohl er bereit gewesen war zu sterben. Nun hatte Sam ihm diesen Gefallen erwidert. Es hatte sein müssen. Sie hatten getan, was nötig war. Sie hatten das Richtige getan. Sie hatten keine Wahl gehabt. Oder?

Castiel tauschte mit ihm aus leeren Augen einen Blick. „Er lebt", schienen sie zu sagen. Sam nickte, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, irgendwo zwischen dankend, zur Kenntnis nehmend und bestürzter Gewissheit. Dann war der Engel verschwunden.


Ein Steppengebiet irgendwo in Zentralasien, fernab von jeder Zivilisation. Ein Ort, an dem er niemandem schaden konnte. Ein trockener Wind fegte durch die dürren Gräser, wirbelte den Staub des kargen Bodens auf und drang kalt durch den dünnen Stoff des Trenchcoats. Castiel spürte es nicht. Seine Schreie vermischten sich mit dem Donner, der über ihm grollte. Wahrscheinlich war er dafür verantwortlich.

Was hatte er bloß getan?! Dean hatte ihm vertraut, er war doch sein Freund. Und er... er hatte Dean weh getan, so sehr. Dem Menschen, dem er nie wieder weh tun wollte. Dem Menschen, der ihm so viel bedeutete. Er hatte ihm auf einer Weise Leid zugefügt, wie er es seinem schlimmsten Feind nicht wünschte. Er hatte nicht nur das Vertrauen des Jägers missbraucht, sondern auch ihn selbst, seinen Körper, seinen Geist, seine Seele. Hätte jemand anderes Dean soetwas angetan, der Engel hätte diesen auf der Stelle getötet.

Castiel wusste nicht, wie lange er schon mit geschlossenen Augen in dem hohen Gras gekauert hatte. Als er sie öffnete, saß eine alte Nomadin neben ihm auf einem Stein. Sie sagte etwas zu ihm. Ein Dialekt irgendwo zwischen Kasachisch und Kirgisisch. Der Bote des Himmels hätte sie wohl verstanden, er verstand jeden Menschen dieser Erde, wenn er denn hingehört hätte. Er zog in Erwägung einfach wieder zu verschwinden, sich einen neuen Ort zu suchen, einen an dem er allein sein konnte. Aber stattdessen ließ er sich von der zierlichen Frau in ihr Zelt führen. Wieso, wusste er selbst nicht. Er sah ihr zu wie sie Tee kochte.

Was hatte er nur getan? Er fühlte sich wund, roh, zerrissen. Als wäre etwas tief in ihm kaputt gegangen. Als hätte er einen Teil von sich unwiderruflich verloren. Er konnte Dean nicht weh tun ohne sich selbst zu verletzen. Das war schon immer so gewesen. Und es war oft so gewesen, viel zu oft. Aber dieses Mal... dieses Mal war es anders. Er hatte Dean verloren.

Sie legte ihm ein Fell um die Schultern. Wenn Castiel es nicht besser gewusst hätte und ein Mensch gewesen wäre, hätte er sie wohl als Engel bezeichnet. Ihre Seele leuchtete warm, gütig und weise. Fast so wie die mandelförmigen Augen in ihrem faltigen Gesicht, Zeugen längst vergangener Zeit. Sie hatte ein langes Leben geführt, bald würde sie sterben.

Was hatte er getan?! Dieser eine Mensch war in all den Jahren mehr gewesen als es seine himmlische Familie je hätte sein können. Und nun hatte er ihre Freundschaft für Deans Leben geopfert. Aber Dean hatte sein Leben nicht gewollt, nein, er selbst hatte Deans Leben gewollt. In seinem Egoismus hatte er ihm das Leben aufgezwungen. Hatte nicht jedes fühlende Wesen das Recht auf seinen Tod? Das Recht zu entscheiden, wann es genug war?

Cursed or not (Destiel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt