Versuchung - Der letzte Schritt

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Dean: "I'm probably gonna die tomorrow, so..."
Castiel: "I'll go with you."
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Es hatte ein paar Tage gebraucht bis der Engel sich von ihrer nächtlichen Zusammenkunft erholt hatte, um stark genug für ihr Vorhaben zu sein. Denn das musste er wahrlich sein, vielleicht mehr als jemals zuvor. Trotz der unfreiwilligen Bedenkzeit hatte Dean sich nicht umstimmen lassen. Und Castiel wusste, er hatte kein Recht, dem Jäger dieses Leben aufzuzwingen, nicht erneut. Ein Leben, das für diesen nur aus Angst, Schuld und Schmerz bestehen würde. Wenn es für Dean hieß entweder ohne den Fluch zu leben oder zu sterben, musste er diese Entscheidung akzeptieren, auch wenn er an seinem Verlust zerbrechen würde, an Deans Tod herbeigeführt durch seine eigene Hand. Denn es ging hier nicht um seine Befindlichkeiten, sondern um Dean. Sein Schmerz war nicht wichtig, Dean war wichtig. Dean war wichtiger als sein eigenes Schicksal. Der Engel würde es tun. Er würde die menschliche Seele berühren und den Fluch herausbrennen.

„Wir müssen es ihm sagen." Castiels Ausdruck war schwer zu deuten. Die Intensität in seinem Blick machte Deans Kehle trocken. „Wir müssen ihm sagen, was wir vorhaben."

„Nein..." Dean wich ihm aus. Gern würde er das seinem Bruder ersparen, die Furcht und die Ungewissheit.

„Er verdient es zu wissen." Seine Stimme war sanft, so sanft, dass es fast wehtat.
Castiel hatte recht, natürlich hatte er das. Sam würde es wollen. Er war sein Bruder. Er musste ihm die Gelegenheit geben, sich von ihm zu verabschieden. Dean machte sich keine Illusionen. Das, was sie vorhatten, war riskant. Vielleicht würde er es nicht schaffen. Das Sterben wog schwer und loslassen war schmerzhaft, wenn man etwas hatte, wofür es sich zu leben lohnte.


Manchmal bedauerte der Jäger, dass es im Bunker kein Tageslicht gab, keine Fenster zum Hinausschauen. Der Abend war immer seine liebsten Stunden gewesen, wenn die Straßen freier wurden und die Grenze zwischen Himmel und Horizont verschwamm. Dagegen war das Licht im Aufenthaltsraum alt und warm und immer gleich. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Es war Zeit zu essen, doch niemand hatte Appetit, nicht einmal Dean. Sam hatte geschwiegen, hatte zugehört ohne ein Wort zu sagen.
„Ich verstehe, wieso du das tun musst", sagte er nun.

„Du bist damit einverstanden?", fragte Dean überrascht. So eine Reaktion hatte er nicht erwartet. Mit allem hatte er gerechnet, dass Sam ihn anschrie, in verrückt nannte, dass er ihm Vorwürfe machte, ihn anflehte es nicht zu tun, dass er ihn nicht mehr sehen wollte. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit Verständnis.

„Nein, aber ich weiß, dass ich dich nicht umstimmen kann." Resignation und ergebene Akzeptanz spiegelten sich in seinem Gesicht. Sam wusste, wieso sein Bruder das tat. Um ihn nicht mehr zu gefährden und Castiel nicht mehr wehzutun. „Dean, was glaubst du könnte Cas eher ertragen, die Schmerzen oder deinen Tod? Wenn du stirbst, das... das... würde er nicht überleben. Und ich... ich...", Sam schüttelte den Kopf, „Nicht... nicht um jeden Preis. Also bitte, geh nicht drauf."


Es war Nacht, Dean hatte nicht länger warten wollen, es nicht länger hinauszögern wollen. Er musste den Fluch loswerden, unter einer sicher schier unvorstellbar qualvollen Prozedur, um jeden Preis. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Bruder Castiel zur Seite nahm. Durch die Entfernung hörte er nicht, was sie sagten, aber das war auch nicht nötig. Sigillen an der Wand, Sicherheitssysteme überprüft, die Vorbereitungen waren getroffen. Castiel hielt es für möglich, dass seine Geschwister versuchen würden einzugreifen, also hatten sie sich gewappnet. Sam hatte auf einen EpiPen und einen Defibrillator im Raum bestanden. Lächerlich, fand Dean. Wenn ihn ein Engel nicht retten konnte, dann konnten es auch kein Adrenalin und keine Stromstöße.

„Sam, geh jetzt bitte", schickte Dean seinen Bruder fort. Er sollte ihn nicht so sehen. Was Castiel mit ihm machen würde... Den Anblick wollte er Sammy ersparen.

Sam nickte und öffnete den Mund als wollte er noch etwas sagen, und doch ließ er es. Dann ging er. Keine Umarmung, keine Chick-Flick-Momente, vielleicht damit es sich nicht wie ein Abschied anfühlte. Der jüngere Winchester warf Castiel noch einen letzten Blick zu, bevor er die Tür hinter sich schloss. In diesem Moment waren sie gleich, Sam und Castiel. Gleich in ihrer Furcht, den Menschen zu verlieren, den sie am meisten liebten.

Vielleicht waren das seine letzten Worte an ihn gewesen. Vielleicht war Geh jetzt bitte das Letzte gewesen, das er zu seinem Bruder gesagt hatte, wurde Dean mit einem Mal bewusst. Aber was sollte er tun? Sam hinterhergehen? Wieso es noch schwerer machen als es sowieso schon war? Einen verstrichenen Augenblick konnte man nicht zurückholen. Das Einzige, auf das er jetzt noch Einfluss nehmen konnte, war ihre Gegenwart, seine und Castiels.

„Cas, ich muss dir noch was sagen. Bevor wir das hier tun." Dean atmete tief durch. Das hier war wichtig. „Du sollst wissen, dass ich dich... Cas, ich..."

„Nein", fiel der Engel ihm ins Wort, „Du kannst es mir sagen, wenn wir das hier überstanden haben."

Dean betrachtete die kahlen Wände des Hochsicherheitsbereichs im Bunker. Dicke Mauern, keine Fenster, kein Sternenlicht. Kein schöner Ort, um zu sterben. Vielleicht würde er das, sterben, hier und heute. Vielleicht nicht. In beiden Fällen würde Castiel bei ihm sein. Er legte sein Leben in die Hände des Engels.

„Dean, bist du dir sicher, dass du das willst? Du musst das nicht tun." Castiel suchte in dem Grün seiner Augen nach einem Anzeichen von Zweifel, doch alles was er fand war Entschlossenheit und Vertrauen, so viel unerträgliches Vertrauen.

Anstatt einer Antwort knöpfte der Jäger sein Hemd auf. Castiel wich zurück als Dean seinen Arm ausstreckte. Dieser nahm jedoch zögernd die rechte Hand des Engels und führte sie zu der Stelle kurz unter seinen Rippen: „Tu es jetzt, ich bin soweit."

Seele berühren. Qualvoll. Bei Dean hatte er das noch nie getan. Außer in der Hölle, aber das zählte nicht. Es war nicht bloß eine Berührung gewesen. Fluch herausbrennen. Lebensgefährlich. Für sie beide. Wenn auch nicht unmittelbar für den Engel. Erst danach, wie Sam gesagt hatte. Wenn dieser eine Mensch starb, würde Castiel das nicht überleben.

Durch seine Haut spürte Castiel den beschleunigten Puls und die angespannten Muskeln. Sanft legte er seine andere Hand um Deans Taille an dessen Rücken, um ihn zu stützen, nicht um ihn festzuhalten, das musste er nicht. Denn er wusste, Dean würde sich nicht wehren ganz gleich wie stark die Schmerzen auch wären.
„Mach dich bereit. Es wird wehtun."

Hast du Angst?, hallte die Frage, die er Dorothy gestellt hatte, in seinem Kopf wider. Dean schloss die Augen und atmete zittrig aus. Ein letztes Mal strich Castiel mit der einen Hand beruhigend seine Wirbelsäule entlang, bevor er seine andere unerbittlich in Dean eindringen ließ.

Dieser krümmte sich, die Augen ungläubig aufgerissen und der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Er spürte Castiel in sich. Seine Hände packten die Schultern des Engels und hielten sich daran fest. Doch anstatt ihn von sich zu drängen oder vor dem Schmerz zurückzuweichen, drückte er Castiels Arm noch weiter, sodass er sich tiefer in ihn versenkte. Ein gequälter Laut verließ Deans Kehle und seine Finger krallten sich in den Trenchcoat. Seine Knie gaben nach, Castiel fing ihn auf. Behutsam verhinderte der Engel, dass er auf den harten Untergrund aufschlug. Dean versuchte ihn anzusehen, doch die Augenlider vor seinen geweiteten Pupillen flatterten.

„Es tut mir leid... Dean, es tut mir leid."
Den Jäger so zu sehen ließ alles in Castiel zusammenziehen. Er konnte fühlen, dass Deans Geist es nicht mehr ertrug und zu flehen schien es möge aufhören.

Auch deine Zeit wird irgendwann kommen, Dean Winchester. Die Prophezeiung der Druidin. Im Kampf mit einer Waffe in der Hand, das war seine Art das Zeitliche zu segnen. Nie hätte der Jäger geglaubt, dass es so enden würde. Die Schmerzen waren unaussprechlich. Er wollte schreien, aber es ging nicht. Sie versengten sein Innerstes, begruben alles unter sich, ließen nichts von ihm übrig. Dean spürte, wie sein Geist aufgeben wollte. Das war der Moment, in dem er eine Entscheidung traf: Nicht heute. Er wollte leben. Selbst wenn das Leben wehtat. Er hatte etwas, für das es sich zu leben lohnte.

Dann drang Castiel zu seiner Seele durch. Und da spürte der Engel wie die menschliche Seele sich ihm öffnete, sich ihm entgegenstreckte. Das war mehr als ungewöhnlich, normalerweise versuchten sich Seelen abzuschirmen, sich zu schützen, dagegen anzukämpfen, zwecklos zwar, aber sie versuchten es. Diese Seele jedoch ließ sämtliche Abwehr fallen, ließ seine Gnade ungehindert ein, hieß ihn willkommen, aufdass das Licht des Himmels durch sie fließen konnte.

Wenn er Dean nicht gehalten hätte, wäre er selbst zusammengesackt, zu überwältigend und unvorstellbar stark war die Reaktion seiner Gnade auf die Nähe zu Dean und dessen Seele. Die himmlische Kraft in Castiel schwoll an und strebte danach, sich mit der Seele des Menschen in seinen Armen zu verbinden und wieder eins zu werden.
Das war schon einmal in der Hölle geschehen, als Castiel ihn dort vor Jahren gefunden hatte und er Deans Seele zum ersten Mal gesehen hatte. Weil Dean fast ein Dämon geworden war und seine menschliche Seele zerfetzt, schwach und kaum noch vorhanden gewesen war, hatte der Engel sie berührt und hatte gegen alle Regel und Vorschriften seine Gnade mit der geschundenen Seele verbunden. Es war ein Versuch gewesen, den dämonischen Teil zu vernichten und die Seele von Dean zu stärkten. Das hätte er nicht tun dürfen, aber er konnte nicht anders. Bei dieser Berührung und der Energieübertragung war eine nicht mehr umkehrbare und starke Verbindung entstanden. Sie waren von diesem Moment an für immer verbunden gewesen. Im Laufe der Jahre war ihre Bindung noch stärker geworden. Es gab Zeiten, da konnte Castiel spüren, wo Dean war, seine Emotionen und Stimmungen fühlen, egal wie weit sie voneinander entfernt waren. (1)
Und dann vor einem Monat, als Dean sich ihm bereitwillig ohne den Drang des Fluches erneut hingegeben hatte, war etwas geschehen, das dieses Band in einer Weise verändert hatte, dessen Ausmaß noch nicht abzusehen gewesen war. Eine einzige Seele, die sich freiwillig hingab, war weitaus mächtiger als hunderttausende Seelen aus dem Fegefeuer.

Dann fand Castiel ihn, den Fluch. Dorothys Mal inmitten all der anderen Narben und Wunden auf der Seele des Jägers. Doch im Gegensatz zu ihnen fühlte es sich falsch an, so fehl am Platze, so anders als sein eigenes, das Mal des Engels. Ihre Verbindung, ihr Band war stärker, stärker als ein Zauber es je sein könnte. Und so war es ganz leicht, er ließ los, ließ es fließen, sein himmlisches Licht, ein reinigendes Feuer, befreiender Schmerz, ungehindert eingelassen, empfangen und ertragen durch die menschliche Seele. Es tat weh, natürlich tat es das, aber nicht verletzend, sondern so als würde etwas an seinen Platz zurückkehren, das schon zu lang gefehlt hatte. Seine Gnade war ein Teil von Dean, so wie es die Narben und Wunden waren, der Fluch war es nicht. Der Fluch und seine dunkle Magie gehörten nicht zu Dean. Castiel gehörte zu dem Menschen. Und der Mensch zu ihm.

Castiel keuchte auf, seine Hand an dem Körper vor ihm presste Dean näher an sich. Er hatte nicht gewusst, was ihm gefehlt hatte, bis er es fand. Aber er durfte nicht über die Berührung hinausgehen. Sie waren sich so nah und doch war es nicht genug, wie ein Tropfen Wasser für einen Verdurstenden. Es kostete ihn immense Kraft die Beherrschung aufzuwenden, nicht der Sehnsucht nachzugeben, nicht dem Verlangen zu erliegen. Mit dem letzten Rest seiner verbliebenen Willensstärke verhinderte er, dass sich seine Gnade endgültig mit der menschlichen Seele verband.

»Ich habe so lange auf dich gewartet. Geh nicht wieder fort.«
Seelen waren wundersame Schöpfungen. Nicht imstande etwas zu verbergen, logen sie niemals, sagten immer die Wahrheit, immer. Und doch waren sie nicht direkt mit der Wahrnehmung ihrer menschlichen Besitzer verknüpft.

Bevor Deans Körper dem alles durchdringenden Schmerz nicht länger standhielt, der Realität entsagen und in die erlösende Bewusstlosigkeit gleiten konnte, zwang sich Castiel die Verbindung wieder zu lösen, seine Gnade von der menschlichen Seele fortzureißen. Obwohl er noch nie etwas so sehr gewollt hatte, musste er ihn loslassen, ihn gehen lassen. Ein erstickter Schrei entfuhr dem Engel, als er sich Dean entzog, so vorsichtig wie es in seinem derzeitigen Zustand möglich war. Ihm wurde schwarz vor Augen.


Die Leere: "Just let's lay down. Infinite peace. No regrets. No pain. Save yourself."
Castiel: "I'm already saved."
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1) vgl. Landei: Dämonen lieben nicht. 2016
"When Castiel first laid a hand on you in hell he was lost!" Hester zu Dean

Musik zum Kapitel:
Love Like There's No Tomorrow - The War and Treaty
Armor - Landon Austin

Das Kapitel ist wieder super lang geworden, also habe ich es zerteilt. Das nächste folgt womöglich schon am Wochenende und wird Antworten geben auf Fragen, die sich vielleicht gar nicht stellen.

Cursed or not (Destiel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt