Ankunft

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Als ich letzte Woche erfahren hatte, dass sie mich loswerden wollten, hatte ich mich gefragt, wie sie selbst die sechs Stunden Autofahrt zusammen aushalten wollten. Daran hatten sie wohl nicht gedacht, denn während mein Dad und ich die Koffer in den Kofferraum verstauten, lief Mom nervös auf und ab. Einzig und allein das Klackern der Absätze ihrer innig geliebten Sandaletten war zu hören.

Meine Überlegung war durchaus berechtigt gewesen, denn die Anspannung, die spürbar in der Luft hing, verschwand auch in den nächsten Stunden nicht. Anstatt sich zu streiten, so wie es in den letzten Wochen oft der Fall gewesen war, herrschte stundenlang eine unangenehme Stille, aus der ich am liebsten sofort flüchten wollte.

Doch leider würde sich mein Unterfangen, bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von Siebzig Meilen die Stunde das Auto zu verlassen, mehr als schmerzhaft erweisen. Deswegen blieb mir nur die Alternative, mit meinen mehr schlecht als recht funktionierenden Kopfhörern mein Lieblingsalbum von Bon Jovi auf voller Lautstärke zu hören.

Entweder musste ich in meinem früheren Leben ein richtig schlechter Kerl gewesen sein, sodass ich nun die volle Portion Karma abbekam, oder aber mein Leben wollte mir einfach so eine auswischen. Denn es schien wohl noch nicht genug davon gehabt zu haben, dass ich meinen Sommer irgendwo im Nirgendwo verbringen sollte, sondern brachte auch den Akku meines Handys dazu, sich nach drei Stunden Fahrt zu verabschieden. Bon Jovi brach mitten im Refrain ab und konfrontierte mich somit regelrecht wieder mit der Stille.
Innerlich verfluchte ich mich, dass ich vergessen hatte, mein Handy vollständig aufzuladen, und überlegte, wie ich es verhindern konnte, an der Langeweile, die mich keine Minute später überkam, kläglich zu sterben.

Ich beugte mich etwas nach vorne, um meine Eltern beobachten zu können.
Doch Dad sah nur angestrengt auf die Straße, während Mom, ihre Arme vor der Brust verschränkt, auf ihre Schuhe starrte.

Auch die Aussicht hatte nichts zu bieten.
Einzig und allein grau-grüne Streifen zogen an mir vorbei und ließen mich nicht im Geringsten erahnen, wo wir uns genau befanden.

„Ich muss mal auf Klo", unterbrach ich schlussendlich die Stille.
Ich log. Denn weder meine Blase, noch das Bedürfnis mit meinen Eltern eine Konversation aufzubauen, verleiteten mich dazu, den Mund zu öffnen. Einzig und allein wollte ich herausfinden, ob sie bei dem ersten Geräusch – abgesehen von dem Rauschen des Highways – zusammenzucken würden.
Dad jedoch nickte nur und fuhr auf den nächsten Rastplatz. Normalerweise hätte Mom mich ermahnt, dass ich auf meine Ausdrucksweise achten sollte und es 'Toilette' hieß, doch wie es in letzter Zeit oft der Fall gewesen war, vernachlässigte sie ihre Aufgaben als überengagierte Mom und blieb still. Sie hielt weiterhin den Kopf gesenkt und leise seufzte ich auf, als ich die Autotür öffnete.

Selbst nach meinem vorgetäuschten Toilettenbesuch verlief der Rest der Fahrt schweigend und ich verbrachte meine Zeit damit, mir vorzustellen, wie mein Sommer aussehen würde. Ich wusste bisher nur, dass ich die nächsten acht Wochen bei einer Frau namens Mrs. Downhill unterkommen würde.
Als meine Eltern vor ein paar Tagen diese Bombe hatten platzen lassen, hatten sie sofort versucht mir verständlich zu machen, dass es keine Fremde war, zu der sie mich abschieben wollten.

Eine Bekannte von früher, hatte Mom hastig gemeint, während Dad davon berichtet hatte, dass sie in Alabama wohnen würde. Aber wo genau dort, konnten sie mir bis heute nicht sagen, da sie irgendwo zwischen den hintersten Ländereien wohnte.
Als ich darauf nichts geantwortet hatte, hatte Mom sich beeilt zu sagen, dass Mrs. Downhill im Sommer ein paar ihrer Zimmer zur Vermietung anbot und in den letzten Jahren auch viele Jugendliche dort ihre Zelte aufgeschlagen hätten. Besonders letzteres betonte sie überdeutlich, so als würde dies es rechtfertigen, dass sie meine Pläne für die Sommerferien innerhalb weniger Sekunden vernichtet hatten.

Ich hatte dafür jedoch nur ein verächtliches Schnauben übrig, denn so wie immer vergaß Mom, dass ich nicht der Typ Junge war, dem es leicht fiel, neue Freundschaften zu schließen, oder überhaupt einen großen Freundeskreis brauchte.
Zwar hatte ich Zuhause zwei, drei Bekanntschaften mit denen ich die Mittagspause in der Schule verbrachte, online Videospiele spielte und notgedrungen Referate ausarbeitete, aber bevor man dieses erzwungene Aufeinandertreffen Freundschaft nennen könnte, würde ich eher auf die Bezeichnung von Leidensgenossen zurückgreifen.
Genau genommen ging ich in der Masse unter und versuchte wie jeder anderer Schüler die Highschool einfach zu überleben. Ich hatte meinen Platz gefunden und war zufrieden damit. Ich brauchte keine geheuchelten Freunde um mich herum, denen man nach der Highschool eh aus dem Weg gehen würde, weil man bemerkt hatte, dass man nur so lange miteinander ausgekommen war, weil die Mathematikklausuren in Teamarbeit um einiges leichter zu bewältigen waren.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt