Wahrheit oder Freundschaft?

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Zwei Wochen waren nun vergangen.
Zwei qualvolle Wochen seitdem Zara gefallen war.
Und nie wieder zu uns zurückkommen würde.

Mein Herz und meine Seele schrien in jeder einzelner Sekunde nach ihr.
Nach ihrem Körper.
Nach ihrem Duft.
Nach ihren roten Locken.
Nach ihren grünen Augen.
Nach ihren Sommersprossen.
Nach ihren Füßen ohne Schuhe.
Nach ihrem Lachen, welches jeden ansteckte.
Nach ihren Charakter und besonders nach ihrer Sicht auf die Welt.
Wie konnte ich jemals ohne sie leben?

Fünf Wochen hatte ich nur mit ihr verbracht, aber es fühlte sich wie fünf Jahrzehnte an.
Und nun wurde mir der Teil von meiner Seele herausgerissen, welcher eine gefühlte Ewigkeit mit Zaras verbunden gewesen war.
Und dieser Teil war mit ihr gegangen.

Ich konnte mich kaum noch an mein vorheriges Leben erinnern.
An mein Leben vor Zara, welches bald wieder Normalität sein würde.
Wie konnte ich es jemals aushalten?
Aushalte ohne Amy, Dean und vor allem Zara?

In diesen zwei Wochen ohne Zara saßen wir meist zu dritt auf irgendeinem Bett und schwiegen.
Wir hatten uns nichts zu sagen.
Wir wollten nicht schwimmen gehen, immerhin war Zara es gewesen, die die Grotte entdeckt und sie auch benannt hatte.

Auch malen konnten wir nicht.
Es war die Wand einer Toten.
Einer Toten, die bereits in dem Sarg verweste, mehrere Kilo Erde über sich und nichts als Dunkelheit und Krabbeltiere um sich herum hatte.

Ich schloss meine Augen und atmete zitternd ein.
Meine Hand fuhr automatisch durch meine, wie immer wirr abstehenden Haaren.

„Ich verstehe es nicht", murmelte Amy auf einmal. Ich zuckte zusammen und blinzelte zu ihr herüber. Keiner sagte etwas und es kehrte wieder Stille in Amys Zimmer, in dem wir uns gerade aufhielten. Doch es blieb nicht lange so, denn plötzlich stand Amy vom Bett auf und stütze ihre Arme in die Seiten und funkelte Dean und mich abwechselnd böse an.

Beinahe so wie Zara.
Zara.
Aber Zara hatte grüne Augen und rote Locken statt diesen braunen Wellen...

„Versteht ihr es etwa, warum Zara dort oben alleine beim Gewitter auf dem Dach war?"
Dean zuckte nur die Schultern. Ich erwiderte nichts und starrte weiterhin auf Amys braunes Haar. „Kommt es euch nicht komisch vor, dass Zara dort oben ausgerutscht ist? Immerhin ist... war sie doch wie eine Katze. Irgendetwas muss sie doch belastet haben. So sehr, dass sie vielleicht unaufmerksam war. Wollt ihr es gar nicht wissen? Seid ihr der Unwissenheit denn gar nicht leid?"

Sie sah zwischen uns beiden hin und her, aber ich hob nur die Schultern.
Doch dann durchzuckte es mich wie ein Blitz.
Wie ein schmerzender, grellerer Blitz, der allen Schmerz wieder an die Oberfläche beförderte.

Denn mir wurde klar, warum sie dort oben alleine war.
Denn ich hatte sie nicht aufgehalten.
Genauso wusste ich längst, was sie aufgewühlt hatte. Oder zumindest teilweise.
Ihre Vergangenheit und vielleicht auch der Kuss.

Ich war schon seit zwei Wochen nicht unwissend, alle anderen jedoch schon.
Mir wurde heiß und kalt zugleich und schnell senkte ich meinen Blick auf die karierte Tagesdecke, auf der ich saß. Ich hatte zu viel Angst davor, dass Amy meinen Gesichtsausdruck wie ein offenes Buch lesen könnte.

Ich hatte meine einzigen Freunde, die ich noch oder besser gesagt jemals gehabt hatte, angelogen.
Oder zumindest die Wahrheit, welche eigentlich so wichtig war, verschwiegen. Galt dies bereits als lügen?
Sollte ich es ihnen erzählen?
Aber was würden sie dann von mir halten?

Mir wurde schlecht, als mir bewusst wurde, wie sie sich dann mir gegenüber verhalten würden; Sie würden mich verstoßen, nie wieder ein Wort mit mir wechseln, mich als Mörder bezeichnen.
Ich schluckte und wagte einen Blick nach oben.
Wollte ich das?
Wollte ich für die Wahrheit, die wohl sonst nie ans Tageslicht komme würde, meine Freundschaft riskieren?

„Amy... Bitte. Musst du dieses... Thema wieder von neuem ausrollen? In vier Tagen sind wir alle wieder Zuhause...", Dean flüsterte die Worte nur, aber als ich meinen Kopf erneut ein Stück anhob, damit ich Amys Reaktion sah, schrie diese schon wutentbrannt los: „Zara ist also nur dieses Thema? Was geht eigentlich in euch vor? Hauptsache ihr seid in vier Tagen wieder bei eurer Familie und könnt dies hier alles vergessen! Oh Mann! Da stirbt meine beste Freundin, unsere beste Freundin und ihr verschließt euch in eurem mickrigen Körper und schert euch keinen Dreck mehr um diesen Unfall? Diesen Unfall, der vielleicht gar kein Unfall war?"

Vollkommen sprachlos vor Wut sah sie uns weiter abwechselnd an, aber als wir beide den Blick wieder gesenkt hielten, schüttelte sie den Kopf. „Was ist nur falsch mit euch gelaufen?"
Ihre Worte schnitten in mein sowieso schon blutendes Herz und trampelten mit der Wucht einer Elefantenherde darauf herum. Keine Sekunde später stürmte Amy wutentbrannt aus dem Zimmer.
Wenn sie nur wüsste, dass ich zu feige dafür war, die Wahrheit zu sagen; dass ich dafür zu egoistisch war.

Aber ich durfte, konnte unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen!
Denn dann würde ich auch das restliche Gute verlieren, das ich in diesem Sommer erleben durfte.

Doch Amy war wütend. Wütend auf uns beide und das nicht ohne Grund. Sie wollte die Wahrheit wissen. Die Wahrheit, welche ich zum Teil kannte, aber in mir verschloss, weil ich nicht in der Lage war, ihr sie zu erzählen...

„Wir haben Scheiße gebaut, oder? Amy ist jetzt richtig sauer?"

Ich nickte als Antwort auf Deans Frage und schloss wieder die Augen. Eigentlich hatte Amy doch Recht. Tagelang hielten wir uns nur in den Zimmern auf, starrten Löcher in die Luft und bemitleideten uns selber. Zwar dachten wir dabei an Zara, doch längst nicht so, wie es sich gehören würde.

Auf einmal sprach Dean erneut und als ich die Bedeutung seiner Worte verstand, erstarrte ich vor Schock. Und aus Angst vor der Antwort, die wir vielleicht niemals mehr erfahren werden.

„Glaubst du, dass es vielleicht wirklich kein Unfall war?"

Das Mädchen aus GlasWhere stories live. Discover now