Gespräch mit der Statue

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Die nächsten Tage flogen an mir vorbei.
Es fühlte sich so an, als würde ich ein teilnahmsloser Reisender sein, der in einem Zug saß und nichts daran ändern könnte, sodass er nur aus dem Fenster sah. Die Tage wischten an mir vorbei, wie es der Ausblick aus dem Zug tun würde. Nach Zaras Beerdigung hatte ich kaum noch mit Amy oder Dean geredet. Die beiden brauchten nun auch Zeit für sich selbst.
Genauso wie ich.

Ich saß stundenlang auf meinem Bett inmitten der Zerstörung, die ich noch immer nicht aufgeräumt hatte und starrte Löcher in die Luft. Oder ich betrachtete den Stein der Wünsche, den ich nun immer bei mit trug.

Am heutigen Morgen saß ich im Bett und starrte aus dem Fenster.
Es war halb sieben in der Früh und mein einziger Gedanke war, dass wir normalerweise nun auf dem Dach sitzen und den Sonnenaufgang beobachten würden.
Ich dachte nach.
Über ihr Lachen.
Über ihr Zimmer.
Über ihre Malereien.
Über ihre tieferen Sinne.
Über ihre gläserne Statue.
Und über ihre Vergangenheit.
Und es schien so, als würde alles mit der gläsernen Statue zu tun haben.
Hatte sie nicht selbst gesagt, dass diese Statue ihren eigenen tieferen Sinn verkörperte?

Bevor ich überhaupt realisierte, was ich tat, hatten sich meine Beine schon selbstständig gemacht und liefen gerade Wegs zu Zaras Tür. Doch kaum war ich angekommen, schwebte meine Hand unsicher über der Türklinke.

Zara ist wie alles oder nichts.

Es war der aussagekräftigste Zettel, derer die an dieser Tür hingen. Tief atmete ich ein und schloss für einen Moment meine Augen.

Konnte ich es?
Konnte ich genau jetzt in ihr Zimmer gehen?
Innerhalb einer Sekunde drückte ich meine Hand auf die Türklinke und die Tür sprang auf, bevor ich noch länger mit mir hadern konnte.
Unsicher und mit klopfenden Herzen betrat ich ihr Zimmer.

Der Geruch erschlug mich geradezu.
Überall roch ich Zara.
Wald.
Zimt.
Moos.
Regen.
Grotte.
Legenden.
Schokoladenkekse.
Sonnenstrahlen.
Salz.
Farbe.
Blumen.
Sogar Sterne konnte ich hier riechen.
Wurde ich verrückt?

Als mein Blick auf die umherliegenden Sachen fiel, bildete sich ein Kloß in meinem Hals und meine Beine konnten mich kaum noch halten. Das Katzen-T-Shirt lag neben dem Schreibtisch, die Bücher waren überall verstreut und das Fenster stand auf Kipp. So, als würde Zara jeden Moment kommen und mit mir auf das Dach klettern.
Doch das würde nie wieder so sein.

Ich atmete einmal tief durch.
Immer wieder sprach ich mir selbst Mut zu, als ich die Treppe hochging und mehreren Büchern und Farbeimern ausweichen musste.
Oben angekommen fiel mein Blick zu aller erst auf das schwarze Loch an der Wand.
Schwarze Farbe, wo früher einmal die Fesseln und die Freiheit zu gleich waren.

Hunderte Erinnerungen brachen über mich herein, so als hätte ich Zara schon Jahrzehnte und nicht gerade einmal ein paar Wochen gekannt.

Mein Blick schweifte zu unserer Wand.
Der Sternenhimmel der schönsten Nacht, die jemals erlebt hatte, erinnerte mich daran, was ich alles verloren hatte.
Die Grotte und der Wald waren da.
Und Zaras Zeichnung. Die mit der Ballerina.

Verdammt!
Warum hatte ich nie früher nachgefragt?

Und dann betrachtete ich uns vier.
Uns, als Kunstwerk an der Wand.
Jedoch leider nur als Bild.
Zaras grüne Augen waren leicht zusammen gekniffen und die Mundwinkel nach oben gezogen. Meine gezeichneten Haare hingegen standen zu allen Seiten ab. Und mein Blick war auf Zara gerichtet. So wie tatsächlich mein Blick die letzten Wochen immer nur auf sie gerichtet war.
Wir wollten uns doch hier treffen.
Hier in ein paar Jahren, damit wir uns zu viert an unsere Freundschaft erinnerten.
Aber dies würde nicht mehr geschehen.
Zara war nicht mehr da.

Als ich merkte, wie ein Tränenschleier meine Sicht verschwimmen ließ, blinzelte ich.
Eine einzelne Träne löste sich und fiel auf den Boden.
Ich tat es ihr gleich.
Meine Beine gaben einfach unter mir nach.
Und so hatte ich nun Blickkontakt zu der gläsernen Statue.
Zu der Ballerina.

„Hallo", flüsterte ich heiser und unsicher.
Was würde mir das hier bringen? Zara war weg und würde mir nie mehr etwas erzählen können. Geschweige denn dieses Mädchen aus Glas.

Aber trotzdem sprach ich zögernd weiter: „Ich- ich will nicht lange stören, aber du bist... warst der Dreh- und Angelpunkt in Zaras Leben und es zerfrisst mich Innerlich nicht zu wissen, warum du der Grund bist. Der Grund, warum Zara so war, wie sie gewesen war." Bei dem Gedanken holte ich einmal tief Luft und redete dann weiter: „Denn ich habe sie geliebt und ich liebe sie noch immer und es bringt mich um, nicht zu wissen, ob Zara etwas Schlimmes widerfahren ist Also damals... Ob ich es hätte verhindern können, sie aufheitern können..." Für einen kurzen Moment stockte ich und schloss meine Augen, bevor ich tief Luftholend weitersprach: „Ich weiß, dass Zara wie ein Puzzle ist. Wie ein Puzzle mit mindestens einer Million Teilen. Jedes Puzzleteil ist ein einzelnes Geheimnis von ihr, das verstehe ich mittlerweile, aber auch wenn ich nie alle Puzzleteile zusammenfügen, geschweige denn finde könnte, muss ich wissen, was für ein Grundmuster dieses Puzzle hat. Wie es ungefähr aussieht. Mehr fordere ich gar nicht... Ich... Ist es denn so falsch, dass auch ich ein Stückchen Frieden möchte?"

Ich wartete auf irgendeine Reaktion, eine Antwort, aber es kam keine. Natürlich nicht, immerhin war es nur eine bescheuerte Statue!

Erneut brach alles über mir zusammen, wie ein Tsunami, der auf einen einzelnen Baum traf.
Schluchzend schlug ich meine Hände vor die Augen und wiegte mich hin und her.

Dann jedoch ertönte eine sanfte Stimme hinter mir und ließ mich zusammenzucken: „Jeder verdient seinen Frieden, Max. Und auch wenn ich gehofft hatte, dass sie es dir irgendwann selbst erzählen wird, werde ich dir ihre Vergangenheit erzählen. Das, was vor sieben Jahren passiert ist... Denn ich weiß, dass die Ungewissheit schlimmer ist, als die nackte Wahrheit..."

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt