Legenden

16.1K 1.5K 38
                                    

Ich lag neben Zara in der Grotte und hatte Bauschmerzen. Das Frühstück war wieder einmal unglaublich gewesen und hätte mich Zara nicht aus dem Speisesaal gezerrt, würde ich sicherlich noch immer an der langen Tafel sitzen und ein Croissant nach dem anderen essen.
Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn ich diesmal in dem Loch beim Tauchen stecken geblieben wäre, doch glücklicherweise war dies nicht geschehen und wir konnten alle neben einander auf dem Steinvorsprung liegen.

Das Licht der Taschenlampen tauchte die ganze Grotte in eine magische Atmosphäre und mit meinen Augen folgte ich dem auf und ab hüpfenden Lichtkegel einer Taschenlampe, die leicht hin und her schaukelte.

„Was denkt ihr, wie die Steine der Wünsche hierhergekommen sind?", fragte ich und drehte leicht meinen Kopf zu den anderen.
Amy zwirbelte nasse Haarsträhnen um ihren Finger, während sie nachdenklich an die Decke starrte und schlussendlich die Schultern zuckte. Auch Dean hob unwissend die Hände und stützte sich auf seine Ellenbogen, um Zara ansehen zu können. „Ich weiß es nicht, weißt du es, Zara?", richtete er seine Worte an Zara.

Auch Amy drehte sich nun auf die Seite, um neugierig auf Zaras Antwort zu warten. Diese lag mit geschlossenen Augen zwischen uns und ein leichtes Grinsen auf ihren Lippen zeigte uns, dass sie definitiv eine Antwort parat hatte.
Sie ließ uns ein paar Minuten zappeln, in denen sie ihre Augen aufschlug, mehrmals blinzelte sich langsam aufrappelte, sich einmal streckte und sich dann ihre nassen Locken aus dem Gesicht strich.

„Wollt ihr es wirklich wissen?" Sie hatte ihre Stimme gesenkt und sah jeden von uns nacheinander eindringlich an. Ich schmunzelte über ihre Geheimnistuerei und bejahte wie die anderen beiden.
Kaum hatten wir uns alle in den Schneidersitz aufgerichtet, fing Zara bereits an zu erzählen: „Man erzählt sich, dass dieser See einst ein großer Fluss mit einer Mündung ins Meer war. Ein armer Junge segelte auf seinem Floß hier entlang und stieß auf die Grotte. Er wusste, dass er etwas Magisches gefunden haben muss, denn er jubelte vor Glück, dass jetzt all seine Wünsche in Erfüllung gehen würden..." Sie vollführte eine schwungvolle Armbewegung, die die gesamte Grotte einschloss, bevor sie weitersprach: „Voller Wünsche und Überzeugung kletterte er wagemutig in die Grotte und fand eine goldene Truhe. Hoffnungsvoll öffnete er sie, fand jedoch nur hunderte von grauen Steinen in ihr liegend."

Die Steine der Wünsche.
Ich wusste sofort, dass sie von ihnen sprechen musste.
Ich hing an Zaras Lippen und wollte unbedingt erfahren, wie die Geschichte weiterging.
Ich musste auch nicht lange warten, denn nach einer kurzen Pause, in der Zara die Augen niederschlug und leise tief Luft holte, erzählte sie weiter: „Wütend und enttäuscht wie er war, stieß er die Truhe samt den Steinen ins Wasser, sodass sich die Steine auf dem gesamten Grottengrund verteilten. Doch als ihm klar wurde, dass zumindest die vergoldete Truhe ein Vermögen wert sein musste, sprang er hinterher."

Zara ließ ihre Füße über den Steinvorsprung baumeln und deutete an, ins Wasser zu springen. So wie damals wohl der Junge.
Sie drehte sich nicht zu uns um, sondern fuhr einfach mit den Handflächen über die Wasseroberfläche, während sie weitersprach. Ihre Stimmlage hatte sich verändert. Sie war nun um einiges leiser geworden. „Doch er tauchte und tauchte und kein Ende war in Sicht. Die goldene Truhe schien sich immer weiter von ihm zu entfernen, egal wie sehr er sich bemühte, sie zu erreichen. Er war kein guter Schwimmer und in seiner Gier bemerkte er viel zu spät, dass seine Lungen nach Luft schrien und ihm bereits schwarze Punkte vor den Augen tanzten. Er ertrank in dieser Grotte, doch seine Seele und Geist waren so erfüllt gewesen von Wünschen, dass sie sich in hunderte von Teilen zerteilten und sich als silbrigen Schimmer auf die Steine legten..."

Mein Blick wanderte zu den leuchtenden Steinen auf dem Grottengrund und unwillkürlich bildete sich ein Kloß in meinem Hals.

„...Und er findet erst seine ewige Ruhe, wenn alle Wünsche eingelöst sind. Deswegen tauchen wir nach den Steinen. Weil er es damals nicht geschafft hat, seinen Wunsch zu erreichen, treten wir nun an seine Stelle. Es ist ein tieferer Sinn des Lebens, seinen Träumen zu folgen, auch wenn es einen unmöglich erscheint."

Es blieb lange Zeit still zwischen uns, Amy und Dean schienen beide gleichermaßen wie ich sprachlos zu sein. Doch nach wenigen Minuten hörte ich, wie Dean sich räusperte: „Aber wie kann es ein tieferer Sinn sein, wenn es dem Jungen das Leben gekostet hat?"

Ich stimmte Dean zu. Denn dies konnte doch nicht richtig sein, oder?
Wie sollte diese Vorstellung von Leben akzeptabel sein?

„Dean, der Junge hat nicht den wahren tieferen Sinn gesehen. Sonst hätte er verstanden, dass er nicht hätte tauchen müssen, um seine Träume zu verwirklichen. Denn es waren ganz andere, als er selbst gedacht hatte. Das Tauchen ist nur der Prozess, um es zu verstehen. Nicht jeder muss tauchen, ja nicht einmal jeder kann tauchen. Aber manchmal müssen wir es, um uns bewusst zu werden, was wirklich wichtig ist und nach welchen Wunschstein wir greifen wollen."

Mir verschlug es der Atem, als ich darüber nachdachte.
Denn meinte sie wirklich das Tauchen an sich, oder spielte sie vielleicht etwas anderes an?

Mit einer einzigen fließenden Bewegung sprang Zara ins Wasser und für einen kurzen Moment verschwand ihr Kopf unter Wasser, bevor sie wieder die Wasseroberfläche durchbrach.

„Warte, Zara!", rief Dean urplötzlich und lehnte sich über den Steinvorsprung hinweg, um Zara ansehen zu können. „Woher kennst du diese Geschichte? Ich dachte, wir wären die einzigen, die von dieser Grotte wüssten..."

Zara hielt sich mit langsamen Armbewegungen über Wasser und ließ ihren Blick durch die Grotte wandern. Unter ihr leuchteten die Steine der Wünsche silbrig weiß und unwillkürlich musste ich an die Seele des Jungen denken, die laut Zara hier anwesend war.

Langsam breitete sich schließlich ein geheimnisvolles Lächeln auf Zaras Lippen aus, dass dem der Mona Lisa gerecht werden konnte. „Dean, Schätzchen. Woher ich es weiß? Ich weiß es, weil ich nun der Ursprung dieser Legende bin."

Und dann tauchte sie ab und für einen Moment konnte ich nur ihre roten Haare sehen, wie sie von ihrem Kopf hinterhergezogen wurden, als sie sich immer weiter den Grottengrund mit den aber dutzenden von Steinen der Wünsche und der zerbrochenen Seele des Jungens näherte.

Und mit einem Mal sah ich es anders.
Denn auf einmal tauchte Zara nicht nur, sondern zeigte uns, dass sie weiterhin tauchen musste.
Ich versuchte zu erkennen, für welchen Stein der Wünsche sie sich entscheiden würde, doch dann kehrte sie, ohne einen vom Grund aufgehoben zu haben, zurück an die Wasseroberfläche.

Das Mädchen aus GlasWhere stories live. Discover now